„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Ukraine: Großes Spiel

In einem Diskussionsforum habe ich das folgende Bild gefunden:

Seit geraumer Zeit ärgert mich die Berichterstattung in den deutschen Mainstreammedien, von Spiegel Online über FAZ, die Nachrichtensendungen im Fernsehen, etc. Unisono ist man dort der Meinung, USA und EU wären die Guten und Putin der Böse. Nur in der Telepolis erscheinen in regelmäßigen Abständen Artikel über die Ukraine, die sich davon etwas absetzen. Bereits am 6.3., also vor der Abspaltung der Krim von der Ukraine, habe ich dort den Beitrag Ukrainisches „Great Game“ gefunden. Auf der folgenden Karte wird die nationale Zerrissenheit der Ukraine deutlich:

In dem zugehörigen Artikel wird analysiert:

Mittelfristig würde sich bei einer Westintegration der Ukraine die wirtschaftliche und militärische Stellung der Russischen Föderation gegenüber dem Westen massiv verschlechtern, der gesamten Region drohte so die Zurichtung zur Peripherie des Westens, wie sie in Mittelosteuropa stattfand. Deswegen war eine scharfe Reaktion Moskaus auf den Umsturz in Kiew, bei dem die anscheinend als „Vermittler“ agierenden europäischen Außenminister plötzlich für die vertragsbrüchige Opposition Partei ergriffen, eigentlich vorhersehbar. Russland wird alle machtpolitischen Möglichkeiten ausschöpfen, um die Westintegration der Ukraine zu verhindern. Sollten diese Bemühungen nicht fruchten, wird Moskau bestrebt sein, neben der Krim möglichst weite Regionen der Süd- und Ostukraine aus dem ukrainischen Staatsverband herauszulösen.

Am Ende dieses geopolitischen Ringens um die in einer schweren Wirtschaftskrise versinkende Ukraine könnte der Westen sich mit einem westukrainischen „Rumpfstaat“ zufriedengeben müssen, in dem gerade die rückständigsten Regionen dieses auch sozioökonomisch gespaltenen osteuropäischen Landes zu finden wären. Dabei war es gerade die seit Jahren schwelende Wirtschaftskrise, die das Land zu einem Objekt geopolitischer Machtkämpfe machte. Der Status quo der Ukraine als ein unabhängiger „Pufferstaat“ zwischen Russland und dem Westen war nicht mehr aufrechtzuerhalten, da diese durch hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizite gekennzeichnete Volkswirtschaft nicht mehr ohne ausländische Finanzierung überlebensfähig war.

Folglich musste sich Kiew irgendwann für eine West- oder Ostintegration – für Brüssel oder Moskau – entscheiden. Die um ihre Unabhängigkeit kämpfenden ostukrainische Oligarchie, deren politischer Vertreter Janukowitsch war, bemühte sich jahrelang durchaus erfolgreich, diese Entscheidung durch einen geopolitischen Spagat, bei dem Kiew zwischen Moskau und Brüssel pendelte, bis zur Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2013 hinauszuschieben.

Es ist für mich die Frage, wer denn von der Ukraine eine Entscheidung zwischen Ost und West gefordert hat? Ich erinnere mich jedenfalls deutlich daran, dass die Zusagen an Russland bzw. seinerzeit noch an die Sowjetunion mehrfach gebrochen worden sind, die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gegeben worden waren. Auch hierzu findet sich in der Telepolis ein Artikel mit einer Erinnerung an einige Vorgänge der letzten 25 Jahre: Ukraine: ein Musterfall von double standards….

Tatsache ist nämlich, dass der Westen unter der Führung der USA und der Nato seit den 1990er Jahren (Zerfall der Sowjetunion) verstärkt eine Strategie der Machtausweitung und – spiegelbildlich dazu – eine Politik der Zurückdrängung Russlands verfolgt. In den letzten Jahren beteiligte sich zunehmend die EU an der Umzeichnung der geopolitischen Landkarte.

Auch Deutschland vergaß parallel mit seinem wirtschaftlichen Kraftzuwachs seine zurückhaltende Rolle. Jüngst waren sich Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin an einem Wochenende(!) einig, dass Deutschland wieder mehr Verantwortung in der Welt übernehmen müsse. Auf russische Befindlichkeiten und aus der Geschichte erklärbare Ängste wurde im Gefühl gewachsener weltpolitischer Bedeutung wenig Rücksicht genommen.

Es war für Russland bereits eine schwerwiegende Veränderung seiner Sicherheitsarchitektur, als die DDR Teil des Nato-Systems wurde. Das widersprach westlichen Zusicherungen im Zusammenhang mit der russischen Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung. Schlimmer für Russland war, dass frühere Ostblockstaaten in die EU und sogar in die Nato aufgenommen wurden.

Auch Teile Ex-Jugoslawiens wurden dem westlichen Bündnissystem zugeführt. Altkanzler Schröder räumte jüngst selbstkritisch ein, dass die vorausgegangen Bombardements ein Verstoß gegen das Völkerrecht waren. In Grenznähe zu Russland wurden Raketenstellungen geplant (Tschechien, Polen) – natürlich ohne vorherige Konsultationen. In Georgien, südlicher Nachbar Russlands, wurde ein vom Westen ermutigter Abenteurer zu einem (missglückten) militärischen Abenteuer verlockt.

Länder im nahen und mittleren Osten wurden mit teilweise abenteuerlichen Begründungen in das geostrategische amerikanische Machtsystem eingebunden (Afghanistan, Irak, Libyen). Bei jedem dieser Schritte legte sich die Halsschlinge enger um Russland. Außerdem wurde im russlandfreundlichen Syrien ein desaströser Bürgerkrieg angeheizt und in Ägypten eine westorientierte Militärjunta reinstalliert. Nebenbei wurde ein Militärschlag gegen den Iran, der sich amerikanischem Druck bisher erfolgreich widersetzt hat, propagandistisch vorbereitet.

Was in einem weiteren Telepolis-Artikel überdeutlich wird, sind die unterschiedlichen Interessen Europas, der USA und Russlands: Great Game um Geo- und Energiepolitik

Beim Krimkonflikt geht es nicht zuletzt um Gas und Öl. Vor der Krim gibt es im Meer riesige Gas- und Ölvorräte. Eigentlich sollte ein von US-Konzern Chevron geleitetes Konsortium diese ausbeuten, um Einkünfte für die Ukraine zu schaffen und die Abhängigkeit vom russischen Gas zu mindern. Doch da kam der Regierungssturz und es folgte die Übernahme der Krim in die Russische Föderation. Mit der Krim in russischer Hand würde sich der Weg der nach dem „Gas-Krieg“ geplanten Gaspipeline South Stream von Russland nach Bulgarien bis Italien, Österreich und Serbien auch über die Krim verlaufen und dadurch deutlich billiger werden. Eigentlich sollte Ende März mit dem Bau begonnen werden, aber wie es jetzt nach dem Krimkonflikt weitergeht, ist noch ungewiss.

Nach der Rosenrevolution, die Georgien Richtung USA, EU und Nato schob, kam bekanntlich die Orange Revolution, die wiederum unter kräftiger Mithilfe des Westens geschah. Bekannt wurde von der US-Beauftragen Nuland in einer Rede im Dezember 2013 , dass seit 1991 alleine 6 Milliarden US-Dollar an staatlichen Geldern in die „Demokratisierung“ des Landes investiert wurden. Sie behauptete, dass es deswegen genügend Kräfte gegeben hat, die die Euromaidan-Bewegung unterstützt haben. Neben den staatlichen Geldern flossen große Finanzhilfen von allen möglichen amerikanischen Stiftungen. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung mischte mit und hat etwa Vitali Klitschko und dessen Partei Udar mit aufgebaut. Im Jahresbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung ist stolz die Rede von den „pro-europäischen Massenprotesten bei denen die langjährigen politischen Partner der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Vaterlandspartei der zu diesem Zeitpunkt noch inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR ) Vitali Klitschkos, eine führende Rolle übernahmen“. Gegen die Zusammenarbeit mit der rechtsnationalistischen Partei Swoboda hatte man offenbar nichts.

Einen interessanten Artikel, der gleichzeitig in zwei verschiedenen Blogs, einmal hier und einmal hier erschien, kommentiert u.a. die Position einer neuen österreichischen Partei mit dem Namen Neos. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, von den prowestlichen Kommentatoren aber mit schöner Regelmäßigkeit vergessen, ist in diesem Beitrag der folgende Gedanke:

Stellen wir einmal die Position des Westens zur Disposition, wie in den Diskussionen fast immer nur die russische: Dass Staaten Interessen haben und vertreten ist legitim, ihre Bewertung zeigt sich in den (möglichen) Auswirkungen auf andere Staaten, Menschen, usf., dies gilt für die europäische Union, die Vereinigten Staaten und Russland, wie für alle übrigen, es zählen übergeordnete Prinzipien (s.o.), für alle gleichermaßen: Auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen, bedeutet zunächst einmal nichts.

Für mich liefert in diesem wirklich bemerkenswerten Text der folgende Absatz zwei entscheidende Stichworte:

Das Positionspapier der »Neos« beginnt denn auch, in seinem Hauptargument, mit der Feststellung des Schuldigen: »Russland hat systematisch und mehrfach das Völkerrecht gebrochen« und nicht etwa mit der Benennung der leidenden Bevölkerung des zerfallenden Staates Ukraine.

In der Wikipedia findet man eine Erklärung des Begriffs des Völkerrechts. Laut diesem, zumindest in unserem aktuellen Verständnis, ist es nicht rechtens, wenn sich ein Staat einen Teil eines anderen einverleibt. Im Fall der Krim ist das doch aber ein wenig komplizierter. Das von der Bevölkerung der Krim abgehaltene Referendum fällt nicht unter das Völkerrecht, denn dieses regelt lediglich die Beziehung zwischen verschiedenen Staaten.

Deshalb wird nun argumentiert, dass bereits das Referendum gegen die ukrainische Verfassung verstoßen hat. Hat nicht aber auch der Sturz der ukrainischen Regierung gegen die Verfassung verstoßen? In welcher Verfassung auf der Welt sind denn verbindliche Regeln aufgeführt, die beim bewaffneten Sturz der gewählten Regierung einzuhalten sind? Genau hier stößt man auf ein interessantes Paradoxon: Wenn die Mehrheit der Bevölkerung Interessen hat, die nicht von der Verfassung gedeckt werden, was ist dann höherrangig – die Verfassung oder die Interessen der Bevölkerung?

Das spätere Referendum in der Ostukraine war ganz offensichtlich eine Farce, sowohl inhaltlich als auch in der Art seiner Durchführung. Aber auch die kommende Präsidentenwahl wird zumindest inhaltlich eine (von der EU aber akzeptierte!) Farce sein: Was taugt eine Mehrheitsentscheidung aller Menschen in einem Land, wenn sich die Menschen in der einen Landeshälfte mehrheitlich so, in der anderen aber mehrheitlich anders entscheiden? – Siehe die obige Karte mit der Einteilung der Ukraine nach Nationalitäten.

Und noch ein Gedanke zum Leiden der Bevölkerung: In Deutschland steht man am Morgen auf, frühstückt, bringt die Kinder zur Schule und geht zur Arbeit. In den Nachrichten in der Ukraine aber sieht man Unmengen von Männern und einige wenige Frauen, die mit einer Kalaschnikow in der Hand wahlweise Gebäude oder Straßen bewachen oder stürmen, egal, ob es pro-westliche oder pro-russische Gruppen sind. Was haben alle diese Menschen denn vor der Krise gemacht? Eigentlich gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder sind es Kriminelle oder es waren bereits vorher Militärangehörige.

Darin besteht für mich die eigentliche Tragik und das zentrale Problem: Der Stellvertreterkrieg der ausländischen Mächte wird mit Hilfe des inländischen Abschaums geführt und mit ausländischen Agenten, Russen oder Amerikaner, die per se Kriminelle nach ukrainischem Recht sind, und zu Lasten der normalen ukrainischen Bevölkerung. Egal, wie der Konflikt ausgehen wird – nach dem Ende werden die ausländischen „Sieger“ und die inländischen gemäßigten Kräfte Mühe haben, die kriminellen Banden wieder loszuwerden, die ihnen im Land den Sieg erkämpfen sollten – so wie man das in Afghanistan, im Irak und anderswo unzählige Male bereits gesehen hat!

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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