„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Capgras-Syndrom

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

 

- Menschen mit Capgras glauben, eine oder mehrere nahestehende Personen seien durch Doppelgänger ersetzt worden.

Capgras-Patienten erkennen zwar die Gesichter, aber die dazugehörige Emotion fehlt.

 

- Forscher vermuten, dass bei den Patienten der emotionale Aspekt bei der Gesichtserkennung gestört ist, etwa durch eine Hirnschädigung nach einem Unfall.

 

- Demnach könnte die visuelle Information im visuellen Cortex verarbeitet, aber von dort aus nicht zum limbischen System und damit zur Amygdala weitergeleitet werden.

 

- Das Capgras-Syndrom ist häufig verbunden mit psychischen Störungen wie Schizophrenie und Wahnvorstellungen oder mit neurodegenerativen Krankheiten wie Demenz und Alzheimer.

 

- Zu den monothematischen Illusionen gehören neben dem Capgras-Syndrom auch das Cotard-Syndrom, das Fregoli-Syndrom und eine Reihe weiterer Störungen. Menschen mit Cotard-Synrom haben nicht nur das Gefühl gegenüber bestimmten Personen verloren, sondern Gefühle generell. Da sie keine Reaktion auf Stimuli mehr zeigen, glauben sie selbst, emotional abgestorben zu sein, ihre Seele verloren zu haben oder im Extremfall sogar tot zu sein. Das Fregoli-Syndrom könnte als Gegenstück zum Capgras-Syndrom bezeichnet werden. Patienten glauben, in wildfremden Menschen Freunde oder Bekannte zu entdecken. Äußerlich habe sich die andere Person zwar verändert, jedoch nicht gut genug, um nicht doch wiedererkannt zu werden. Unter den Oberbegriff der reduplikativen Störungen werden Störungen gefasst, bei denen Menschen glauben, dass es von einem Lebewesen oder einer Sache mehrere Varianten gibt. Betroffene sind davon überzeugt, dass ein Ort, ein Gebäude oder ein Raum mehrfach existiert.

 

- Um herauszufinden, was Capgras-Patienten tatsächlich empfinden, haben Hadyn Ellis und Michael Lewis von der Cardiff University in Wales ein Verfahren verwendet, auf dem auch Lügendetektortests basieren. Sie maßen den Hautwiderstand von Betroffenen, während diese Gesichter von bekannten Personen betrachteten. Freude, Angst und andere Emotionen erzeugen eine Veränderung des Hautwiderstands, was sich auf das autonome Nervensystem auswirkt. Dieses wiederum steuert die Hautgefäße und Schweißdrüsen. Wenn die Schweißproduktion ansteigt, zeigt sich das in der Veränderung des elektrischen Widerstands der Haut. Im Gegensatz zu gesunden Probanden bleibt der Hautwiderstand bei Patienten mit Capgras-Syndrom unverändert, wenn sie das Gesicht einer bekannten Person betrachten. Obwohl sie die Gesichter zwar erkennen, löst der Anblick offenbar keine emotionale Reaktion aus.

Madame M. heiratet im Jahr 1898 im Alter von 29 Jahren. Viele ihrer Kinder sterben in den folgenden Jahren jung an Krankheit oder Unterernährung. In dieser Zeit stellt ihr Mann fest, dass seine Frau plötzlich sehr nervös ist. Bis auf exzessiven Kaffeegenuss, sagt er, sei sie bis dato aber ganz normal gewesen. Kurz darauf erklärt Madame M. ihrem Ehemann, er sei nicht ihr wirklicher Gatte, sondern ein Doppelgänger. Nach und nach deklariert die junge Frau auch die anderen Mieter im Haus, den Hausmeister, ihre Kinder und schließlich sogar sich selbst zu Duplikaten – die Originale seien entführt worden. Am 3. Juni 1918 meldet Madame M. beim Kommissariat in Paris mehrere Raubfälle von bekannten Personen in ihrer Umgebung. Einen Tag später wird sie in die psychiatrische Klinik Saint Anne in Paris eingewiesen. Fünf Jahre später diagnostiziert der Psychiater Joseph Capgras bei ihr ein Syndrom, das im Folgenden nach ihm benannt wird: Das Capgras-Syndrom.

Das Capgras-Syndrom wird auch als Verkennung, Illusion oder im Englischen „delusion“ bezeichnet. Patienten mit Capgras-Syndrom gelten als „delusioniert“, da sie vehement an dem Glauben festhalten, dass eine oder mehrere ihnen nahestehende Personen durch Doppelgänger ersetzt worden sind. Diese Überzeugung vertreten sie selbst dann, wenn es offensichtliche Beweise des Gegenteils gibt. Da der Irrglaube das einzige Symptom der Capgras-Delusion ist, wird sie zu den monothematischen Illusionen gezählt (siehe Info-Box).

1. Von Feinden verfolgt

Im Gegensatz zu anderen Illusionen gelten monothematische als besonders beständig. Meist treten sie in Verbindung mit Demenz-Krankheiten wie Alzheimer, nach Schlaganfällen, Hirnblutungen oder anderen Verletzungen des Gehirns auf. Häufig werden sie begleitet von psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, die unter anderem mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen verbunden ist. Madame M. fühlte sich beispielsweise permanent von Feinden verfolgt, die angeblich ihre Angehörigen gestohlen hatten und sie selbst vergiften wollten.

Andere Erfahrungsberichte zeugen von einem Fremdheitsgefühl dieser Menschen: Alles um sie herum sehe komisch aus, wie gemalt oder unnatürlich und Gesichter erschienen oft wie Masken oder Wachsmodelle. Offensichtlich tritt das Syndrom meist in Zusammenhang mit dem Sehsinn auf. Sobald die Patienten mit ihren Angehörigen telefonieren, sei ihre Wahrnehmungplötzlich meist normal, erklären Wissenschaftler. Neuere Studien, etwa von Lucia Gallego vom Instituto de Psiquiatria y Salud Mental des Hospital Clinico San Carlos in Madrid aus dem Jahr 2011 belegen jedoch, dass Capgras auch bei Menschen entstehen kann, deren Verwandte weit entfernt wohnen und die sich nur am Telefon begegnen.

2. Das Spiegelbild der Prosopagnosie

Zunächst glaubten viele Forscher, das seltene Syndrom begründe auf Prosopagnosie – der generellen Unfähigkeit, Gesichter bewusst zu erkennen. Ursache dieser Störung ist eine Verletzung des Gyrus fusiformis im Schläfenlappen, dem für die Gesichtserkennung zuständigen Areal. „Ist dieses Areal geschädigt, erkennt man unter Umständen nicht einmal sich selbst im Spiegel“, sagt der Hirnforscher Vilayanur Ramachandran, Direktor des Center for Brain and Cognition der University of San Diego. Patienten mit Prosopagnosie leugnen beispielsweise, das Gesicht eines engen Freundes schon einmal gesehen zu haben, zeigen aber gleichzeitig eine emotionale Reaktion, die dem widerspricht. Bei Menschen mit dem Capgras-Syndrom verhält es sich jedoch genau umgekehrt: Sie erkennen ihre Nächsten durchaus – zeigen aber keine emotionale Reaktion, wie sich am Hautwiderstand der Menschen messen lässt (siehe Info-Box).

Die britischen Psychologen Andrew Young von der University of York und der inzwischen verstorbene Hadyn Ellis von der Cardiff University schlugen daher in den 1990er Jahren vor, das Capgras-Syndrom als eine Art Spiegelbild der Prosopagnosie zu sehen. Sie folgen einer Theorie, die zwei Pfade der visuellen Verarbeitung im Gehirn beschreibt: Der ventrale Pfad wird für die bewusste Gesichtserkennung gebraucht und ist normalerweise bei Patienten mit Prosopagnosie beschädigt. Er verläuft vom visuellen Cortex zu denTemporallappen. Die dorsale Route zieht vom visuellen Cortex über den inferioren Parietallappen zum limbischen System und zur Amygdala – dort gewinnt das Gesicht seine emotionale Bedeutung.

„Diese Struktur bewertet die Bedeutung dessen, was man sieht: Ist es Beute, ist es ein Fressfeind, ist es ein möglicher Sexualpartner, oder etwas ganz Triviales, dem man keine Beachtung schenken muss“, erklärt auch Ramachandran. Dieser dorsale Pfad sei bei Capgras-Patienten gestört, sodass sie zwar noch ein wahrheitsgemäßes Abbild eines Gesichts mit allen angemessenen Bedeutungen bekommen, allerdings fehle ihnen ein wichtiges Set an Informationen, welches eine emotionale Bewertung des Eindrucks ermögliche. Ramachandran erklärt, ein Betroffener sehe deshalb zwar beispielsweise seine Mutter, könne dieses Bild aber nicht mit den üblichen Gefühlen für sie in Verbindung bringen: „Er sagt dann: Weil ich nichts für sie empfinde, kann das nicht meine Mutter sein, sondern eine merkwürdige Frau, die so tut, als wäre sie meine Mutter.“

3. Menschen ohne Seele

Carol Berman, Psychiaterin am New York University Medical Center, erklärt, dass Patienten durchaus erkennen, dass ihnen nahestehende Personen noch genauso handeln und aussehen, wie sie es gewohnt sind, es sei aber, als ob die Menschen ihre Seele verloren hätten. Obschon dieser Illusion häufig eine Gehirnverletzung zugrunde liegt, wird noch diskutiert, ob auch andere Ursachen eine Rolle spielen könnten. So betont etwa Michael Lewis, der mit Hadyn Ellis am Capgras-Syndrom forschte: „Es handelt sich um einen Fehler der Informationsübertragung von einem Ort im Gehirn zu einem anderen. Der Grund dafür kann eine Gehirnverletzung sein, aber genauso könnte die Verteilung der Neurotransmitter für den gehemmten Informationsfluss verantwortlich sein - zum Beispiel aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts.“

Doch auch psychische Ursachen werden noch immer diskutiert. Denn Betroffene mit Capgras-Syndrom erklären nicht willkürlich jeden zum Doppelgänger, sondern meist Personen, mit denen sie emotional stark positiv oder negativ verbunden sind. Daher vermuten Experten wie Berman, dass bereits ein gestörtes Verhältnis zwischen Patient und der vertrauten Person vorausgegangen sein könnte. Die Erklärung zum Doppelgänger ermögliche den Patienten, Abstand zu der Beziehung zu nehmen und das Problem zu lösen, indem geleugnet wird, dass es sich um die echte Person handle. Auch psychiatrische Erkrankungen könnten ein Auslöser sein. So wird derzeit diskutiert, ob Madam M., die Capgras damals untersuchte, nicht eigentlich an einer weiterreichenden psychiatrischen Störung gelitten habe.

Wie genau das Capgras-Syndrom entsteht, muss noch weiter erforscht werden. Forscher wie Haydn Ellis sehen darin letztlich jedoch nichts anderes als eine Rationalisierungsstrategie. Aus der richtigen Beurteilung der visuellen Information – „Das ist meine Mutter“ – und der mangelnden emotionalen Bestätigung – „Es fühlt sich nicht an, als wäre es meine Mutter“ – entsteht ein Widerspruch, den das Gehirn auszugleichen und logisch darzustellen versucht. Man könnte das Capgras-Syndrom darum auch als Schutzmechanismus des Gehirns deuten, das versucht, die Differenz von Gedächtnis und Erleben wieder in Einklang zu bringen.

zum Weiterlesen:

§  Madoz-Gurpide, A. et al.: Capgras delusion: a review of aetiological theories. Revista de neurologia. 2010; 50(7):420- 430 (zum Abstract).

§  Sinkman, A.: The syndrome of Capgras. Psychiatry. 2008; 71:371-378 (zum Abstract).

Gastbeitrag von: Leonie Seng

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