„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Migration als effiziente Armutsbekämpfung?

Text von Uwe Lehnert

»Die Bevölkerung Afrikas wächst jede Woche (!) um eine Million (!) Menschen« (Entwicklungsminister Gerd Müller in einem Gespräch auf Phönix; siehe auch »Die Welt« vom 18.6.17: »Entwicklungsminister warnt vor riesiger Fluchtbewegung aus Afrika«.)

Um diese Zahl noch etwas zu unterfüttern, sollte man wissen, dass eine afrikanische Frau durchschnittlich fünf und mehr Kinder bekommt. Andererseits konnte die Kindersterblichkeit aufgrund der Programme der Weltgesundheitsbehörde (WHO) und anderer Hilfsorganisationen – was natürlich sehr zu begrüßen ist – deutlich verringert werden. Von der naheliegenden Idee, dem für alle bedrohlichen Bevölkerungswachstum durch Geburtenkontrolle Einhalt zu gebieten, so wie es asiatische Länder wie China zum Beispiel erfolgreich praktizieren, hört man so gut wie nichts – weder in den dortigen Ländern, mit Ausnahme von Kenia, noch in Europa. Im Gegenteil – die beiden großen Religionen in Afrika streben je für sich möglichst große Anhängerzahlen an.

Europa hat in den letzten Jahren einige Hunderttausend Afrikaner als Armutsmigranten aufgenommen. Man erkennt an der Relation von Geburten in Afrika pro Woche und Aufnahme von Migranten in Europa in den letzten etwa vier Jahren unschwer, dass damit nicht im Geringsten ein Beitrag zur Reduzierung der Armutsproblematik in Afrika geleistet wird. Denn während in Europa in den letzten vier Jahren einige Hunderttausend afrikanische Migranten aufgenommen wurden, hat die Bevölkerung in Afrika in der gleichen Zeit um über 200 Millionen Menschen zugenommen.

Wer wie führende Politiker von »links« über »grün« bis in den Bereich »christlich-kirchlich« meint, angesichts dieser Zahlen das Armutsproblem dieses riesigen Kontinents durch eine Bevölkerungsverschiebung – ob mit oder ohne Obergrenze ist dabei völlig bedeutungslos – zu lösen, dem fehlt es schlicht an Einsicht und Verstand oder er phantasiert von einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft im Sinne einer »weltbürgerlichen« Gesellschaft, die aufgrund von Selbstregulation keine kulturellen Probleme und sozial-ökonomischen Ungerechtigkeiten mehr kennt. Das eine wäre so dumm und verantwortungslos wie das andere. Peter Scholl-Latour formulierte treffend: »Wir lösen die Probleme Kalkuttas nicht dadurch, dass wir Kalkutta hier her holen.« Die Probleme dieser Armuts- und Elendsregionen sind, wenn überhaupt, nur dort zu lösen.

Die Philosophen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski haben bereits 2015 und 2016 die unreflektierte und planlose Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung und in diesem Zusammenhang die gedankenlose »Willkommenskultur« scharf verurteilt. Sie haben schon damals der Politik Problemanalysen und Lösungsvorschläge vorgelegt, leider ohne jede Resonanz seitens der Politik. Jetzt hat ein weiterer führender deutscher Philosoph, Julian Nida-Rümelin, sich in die aktuelle Diskussion eingeklinkt und die ethischen Aspekte der Asyl-, Bürgerkriegs-, Armuts- und Wirtschaftsmigration sehr gründlich analysiert. Seine Überlegungen münden in konkret beschriebenen ethischen Postulaten, denen eine humanistische und vernunftorientierte Migrationspolitik zu folgen hätte.

Im VIII. Kapitel formuliert er sieben ethische Postulate für die Migrationspolitik und erläutert, wie diese konkretisiert werden könnten. So fordert er generell, die Migrationspolitik so zu gestalten, dass sie zu einer humaneren und gerechteren Welt beiträgt und nicht zum Beispiel nur egoistisch die Interessen des aufnehmenden Landes im Auge hat (Beispiele Kanada oder Australien). Denn die Aufnahme von Wirtschaftsmigranten, die hier als Fachkräfte gesucht werden, darf nicht zu einem für uns vorteilhaften, aber für die Herkunftsländer entwicklungshemmenden »braindrain« führen. Migrationspolitik müsse ferner so gestaltet werden, dass in der aufnehmenden Gesellschaft Einwanderung als Bereicherung und nicht wie vielfach heute als Bedrohung wahrgenommen wird. Und Migrationspolitik muss so gestaltet werden, dass sie sich nicht – wie derzeit – zulasten der unteren (Konkurrenz!) und zugunsten der oberen Einkommensschichten (billige Arbeitskräfte!) auswirkt. Schließlich plädiert Nida-Rümelin vor allem für eine Bekämpfung der Ursachen von Migration und fordert großzügige Transferzahlungen in die Elendsregionen und damit entscheidend verbunden eine gerechtere Wirtschaftsordnung.

Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken – Eine Ethik der Migration. Hamburg 2017; 241 S.; 20.- €

Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und politische Theorie, macht in seinem schmalen Band, auch in verschiedenen Zeitschriften-Beiträgen und Interviews, sehr bemerkenswerte Vorschläge. Er legt dar, in welcher Weise ethische Grundsätze bei der Lösung der weltweiten Migrationsproblematik leitend sein sollten, und in welcher Form diese in praktische Politik umzusetzen sind. Er spricht die ethischen Dilemmata an, in denen man sich befindet angesichts der Begrenztheit der Möglichkeiten und Ressourcen einerseits und der eigenen Bedürfnisse und legitimen Ansprüche andererseits. Legt aber auch dar, wie mit ihnen umzugehen ist. Insofern zeigt Nida-Rümelin, wie Ethik und Realpolitik miteinander verträglich gemacht werden können.

Es schmälert den Wert dieser Schrift nicht und den Mut, sie zu veröffentlichen, wenn man darauf verweist, dass diese Vorschläge von verschiedenen Seiten schon früher gemacht wurden. Auch auf dieser Website. Offenbar muss die Zeit (über)reif sein und »Populisten« den »Systemparteien« gefährlich werden, bevor die Politik sich – mehr getrieben als aus eigenem Entschluss – veranlasst sieht, das zu tun, was eine vorausschauende Regierung schon längst hätte in Angriff nehmen müssen. –

Die derzeit in Deutschland betriebene Migrationspolitik weist offenbar schwere Fehler und Mängel zulasten der Herkunfts- wie Aufnahmeländer auf. Zum Beispiel:

- Bürgerkriegsflüchtlinge kommen unter größten Strapazen nach Deutschland, statt ihnen für einen Bruchteil der Kosten in Heimatnähe sicheren Schutz und Hilfe zu bieten. Die aufgrund des Syrienkrieges Flüchtenden, auch wegen der Auseinandersetzungen mit dem sog. Islamischen Staat, wurden zunächst von den Ländern Jordanien, Libanon und Türkei aufgenommen. Die Hilfe, die diese Länder benötigten, um diese Menschen in Millionenstärke unterzubringen, wurde von der Weltgemeinschaft nur ungenügend aufgebracht. Die deutsche Bundesregierung wurde wiederholt von der UNHCR aufgefordert, hier mehr Mittel bereitzustellen. Das geschah leider nicht, sodass ab 2014 eine bisher nicht gekannte Flüchtlingsbewegung Richtung Europa, vor allem nach Deutschland, einsetzte. Da nach Beendigung der Kampfhandlungen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Regel in ihre Heimat zurückkehren sollten, ist es daher sinnvoll, diese grenznah unterzubringen. Statt diesen Menschen eine strapaziöse, gesundheitsgefährdende Wanderung nach Europa, wo sie mit erheblich höheren Finanzmitteln versorgt werden müssen, zuzumuten, wäre es viel effizienter, diese Mittel in den Ausbau akzeptabler Lager zu investieren. Würden diese Camps mit festen Straßen, Wasserversorgung, Gesundheitsdiensten und Schulen ausgestattet und eine angemessene Lebensmittelversorgung sichergestellt, würden die meisten der dort vorübergehend untergebrachten Menschen nicht das Heil in einer ungewissen Zukunft in Europa sehen. Berechnungen zeigen, dass mit einem Bruchteil der Mittel, die die europäischen Aufnahmeländer pro Migrant ausgeben, diese Lager unterhalten werden könnten.

- Armutsmigranten werden hier aufgenommen und zu hohen Kosten unterhalten, statt dieses Geld vor Ort auf nachhaltig wirkende Weise zu investieren. Die EU rechnet mit 250 000 bis zu 300 000 (!) Euro Integrationskosten pro Migrant. Die Kosten sind deswegen so hoch, weil das Gros keine auskömmliche Beschäftigungsmöglichkeit findet, folglich oft dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen ist. Bei 40 Prozent und mehr Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern und deutlich geringeren Sozialleistungen wollen die meist jungen Migranten sich eher in Mitteleuropa, bevorzugt Deutschland, niederlassen. Sie konkurrieren hier aber in erster Linie mit ebenfalls nur mäßig oder gar nicht qualifizierten Arbeitskräften. Qualifizierungsmaßnahmen für Migranten zeigen aufgrund meist geringer Vorkenntnisse in grundlegenden Kompetenzen und mangelnder Disziplin, was u.a. auf mangelhafte Beschulung zurückzuführen ist, nur sehr bedingt Erfolge. Wesentlich erfolgversprechender, weil dauerhaft wirkend, sind Investitionen in Ausbildung und Arbeitsmöglichkeiten in den Herkunftsländern mit Hilfe der Gelder, die hier zum Beispiel als finanzielle Unterstützung geleistet werden (Idee eines Marshallplans!). Das allerdings erfordert auch faire Handelsverträge, die v.a. den afrikanischen Ländern die Chance bieten, eine leistungsfähige Landwirtschaft und Industrie aufzubauen. Derzeit überschwemmen die Industrieländer den afrikanischen Kontinent mit billigen landwirtschaftlichen und technischen Produkten, mit denen die dortige Wirtschaft nicht mithalten, folglich sich auch nicht entwickeln kann. Die hier in Europa fehlenden Handwerker und Dienstleistenden durch Migration zu gewinnen, nützt uns, diese fehlen aber den dortigen Ländern bei ihrer eigenen Entwicklung (Braindrain). Diese Form der Migration der Ausgebildeteren und Aktivieren vergrößert vielmehr das dortige Elend. Hier wären unsererseits mindestens Kompensationsleistungen zu gewähren.

Fazit: Die Armuts- und Elendsproblematik in den verschiedenen Regionen dieser Welt durch Aufnahme dieser bedürftigen Menschen in den reicheren und wirtschaftlich stärkeren Ländern zu lösen, ist rein quantitativ absolut illusorisch. Die schon jetzt nicht gelösten Integrationsprobleme in Frankreich, Großbritannien, Belgien, Schweden, auch Deutschland, zeigen, dass weitere Aufnahmen von Migranten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Probleme nur vergrößern würden. Insofern ist die Haltung Polens, Tschechiens und Ungarns, keine Migranten aufnehmen zu wollen, nachvollziehbar. Abgesehen davon, dass die meisten Migranten auch wegen der dortigen deutlich niedrigeren Sozialleistungen diese Länder meiden. Stattdessen sind die Probleme vor Ort zu bewältigen, indem diese Menschen mit unserer ideellen und finanziellen Hilfe befähigt werden, sich nach und nach selbst zu helfen. Statt des derzeitigen Solidaritätszuschlags, gedacht einst für die neuen Bundesländer, sollte es zukünftig einen Steuerzuschlag »Solidarität für Afrika« geben, der für Ausbildung, Aufbau eines Gesundheitssystems, Investitionen in die Infrastruktur (Straßen, Energieversorgung) und Wirtschaft der Armuts- und Elendsregionen dieser Region zur Verfügung steht. Der Gewinn aus den umfangreichen Bodenschätzen sollte in erster Linie den Afrikanern zugutekommen. Auch eine überlegte Bevölkerungspolitik in Form von Geburtenkontrolle gehört ganz wesentlich zu einer planvoll gesteuerten Entwicklung. Dass dafür auch die politischen, kulturellen und mentalen Voraussetzungen in diesen Ländern geschaffen werden müssen, die überwiegend noch von Stammesdenken, Korruptionsverhalten und nicht zuletzt von mittelalterlichem religiösen Denken geprägt sind, verweist auf weitere Hürden, die überwunden werden müssen.

Alle diese Probleme sind aber prinzipiell lösbar, wie die reichen Industriestaaten in den letzten hundert Jahren gezeigt haben. Es überzeugt langsam nicht mehr, die Ursachen für das Elend in weiten Teilen Arabiens und Afrikas immer nur in der früheren Kolonisation und den von außen verursachten Kriegen zu suchen. Es wäre in diesen Ländern längst mehr Frieden und Entwicklung in Richtung mehr Wohlstand eingekehrt, würden nicht die bar jeglicher Vernunft, mit größter Menschenverachtung und Brutalität geführten religiösen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen und Muslimen und Juden immer noch stattfinden. Besonders abartig erscheinen die erbarmungslosen Kämpfe innerhalb des Islam zwischen den Sunniten und Schiiten und mit den weiteren Abspaltungen Boko Haram und Islamischer Staat. Europa konnte zeigen, dass die Zurückdrängung einer alles bestimmenden Religion der Vernunft soweit Raum verschaffte, dass sie zumindest mehr Gewicht in der Politik und Gesellschaft bekam. Irrationalen, alleinige Wahrheit beanspruchenden Heilslehren konnte so der allein bestimmende Einfluss auf Politik und Gesellschaft wesentlich beschnitten werden.

Eine Erziehung zu Vernunft und Rationalität ist innerhalb einer Gesellschaft, in der eine die Wahrheit beanspruchende Heilslehre über allem steht, ausgeschlossen. Frieden setzt die prinzipielle Akzeptanz des Andersdenkenden voraus. Wohlstand für alle gedeiht nur auf der Basis von Wissenschaft und Technik.

In der Entwicklung der Menschheit hat es sich immer bewährt, wenn man von den schon etwas klüger Gewordenen lernte.

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