„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

reaktionäre Religion

Religionen werden ihren Anhängern gerne als Universalantwort verkauft. Dabei ist das exakte Gegenteil der Fall. Das Christentum kennt keine Antworten auf die Herausforderungen durch die Digitalisierung, der Islam hat keine Lösungen für den menschenverursachten Klimawandel und der Hinduismus gibt uns kein Konzept für eine globale Gerechtigkeit in einer vernetzten Welt an die Hand. Wer etwas anderes glaubt, interpretiert etwas in die Religionen hinein, das ihre Gründer definitiv noch nicht im Auge hatten. Die Bibel, der Koran oder die Veden entsprechen exakt dem fehlerhaften, menschlichen Wissens- und Kulturstand ihrer Entstehungszeiten - und gehen nirgendwo darüber hinaus. Sie enthalten keine einzige Erkenntnis, keine moralische Einsicht, die nicht von einem Menschen vor tausenden von Jahren stammen könnte und auf einem göttlichen Urheber hindeuten würde. Deshalb sind sie - als moralische Ratgeber oder als Welterklärung - bestenfalls unbrauchbar.

Religiöse Menschen, die ihren Glauben ernst nehmen, sind immer auch reaktionäre Menschen. Das liegt daran, dass sie deskriptive und normative Auffassungen von vor tausendenen Jahren in unsere heutige Welt übertragen möchten. Da unsere Vorstellungen von Moral und der Welt in den letzten Jahrtausenden aber deutlich fortgeschritten sind, befinden sich religiöse Menschen damit meist auch auf der falschen Seite der Geschichte: Sie kämpfen für längst überholte Normen und Überzeugungen.

Doch stehen religiöse, reaktionäre Menschen damit auch auf der Verliererseite der Geschichte? Der israelische Historiker Yuval Noah Harari glaubt genau dies: Reaktive wirkende Kräfte verlieren langfristig an Einfluss, da sie keine Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit bieten können. Ich hoffe inständig, dass ihm die Zeit (weiterhin) Recht geben wird.

Der Sozialismus war vor einhundert Jahren auf der Höhe der Zeit, verpasste dann aber den Anschluss an die relevanten Entwicklungen. Leonid Breschnew und Fidel Castro stützten sich auf Ideen, die Marx und Lenin im Zeitalter der Dampfmaschine formuliert hatten, und begriffen die Macht von Computern und Biotechnologien nicht. Deshalb mussten ihre Gesellschaftsentwürfe untergehen. Die heutigen Linken stützen sich zu großen Teilen weiterhin auf überholte Befunde und sind deshalb nicht in der Lage, eine realistische Alternative zur herrschenden Marktwirtschaft anzubieten. Dabei adaptiere Marx seine Gedanken selbst immer wieder an sich ändernde Umstände. Würde er heute unter die Lebenden zurückkehren, würde er vielleicht seine paar verbliebenen Schüler dazu drängen, weniger Zeit mit der Lektüre des Kapitals und mehr Zeit mit dem Studium des Internets und des menschlichen Genoms zu verbringen.

Noch schlechter als um den Sozialismus steht es laut Harari um die Religionen. Der Islam, das Christentum und andere traditionelle Theismen sind noch immer wichtige Faktoren in dieser Welt, doch ihre Rolle ist jetzt eine weitgehend reaktive. In der Vergangenheit hingegen war sie eine zu Teilen durchaus schöpferische Kraft. So gründeten sich an den Anschluss an das christliche Bildungswesen die ersten mittelalterlichen Universitäten in Europa. Und die katholische Kirche gründete fortschrittliche Klöster mit neuen Agrar- und Verwaltungsmethoden – und war nebenbei bemerkt auch selbst das ausgeklügeltste Verwaltungssystem im gesamten mittelalterlichen Europa.

Heute genießt die katholische Kirche noch immer die Loyalität und die Steuerzahlungen von Hunderten Millionen von Anhängern. Doch sie und die anderen theistischen Religionen haben sich schon lange von einer kreativen in eine reaktive Kraft gewandelt. Sie zerbrechen sich heute überwiegend den Kopf über die Technologien, Methoden oder Ideen, die anderen Bewegungen entstammen. Und meistens führen sie dabei ein Rückzugsgefecht gegen jede neue Erkenntnis, Methode oder Ansicht – und müssen sich dann von der Zeit geschlagen geben. Biologen erfinden die Pille – der Papst verbietet es. Computerwissenschaftler entwickeln das Internet – Rabbiner streiten darüber, ob orthodoxe Juden im Netz surfen dürfen. Feministinnen fordern Frauen zu einem selbstbestimmten Umgang mit dem eigenem Körper auf – und gelehrte Muftis streiten darüber, wie man mit solch aufrührerischen Vorstellungen umgehen soll.

Fragen Sie sich einmal selbst: Wann haben die Religionen selbst so etwas ähnlich Großes wie Antibiotika, Internet oder den Feminismus hervorgebracht? Das ist eine schwierige Frage, denn die Auswahlmöglichkeiten sind klein und man muss lange zurückgehen, um was wirklich Großes zu finden. Was haben Priester, Rabbiner und Mufties im 20. Jahrhundert entdeckt, das sich im selben Atemzug mit Antibiotika, Computern oder dem Feminismus nennen lässt? Und jetzt fragen Sie sich, was die größten Entdeckungen aus Wirtschaft und Wissenschaft der letzten hundert Jahre waren. Auch diese Frage ist schwer zu beantworten, denn die Auswahlmöglichkeit ist hier riesengroß.

Von wo also denken Sie werden die großen Veränderungen des 21. Jahrhunderts ausgehen? Vom Iran oder wohl doch eher vom Silicon Valley?

Milliarden Menschen, darunter viele Wissenschaftler, nutzen religiöse Schriften weiterhin als eine Quelle von Autorität, aber eine Quelle der Kreativität und des Neuen sind diese Texte schon lange nicht mehr. Man denke etwa an die Akzeptanz der Schwulenehe oder weiblicher Priester durch fortschrittliche christliche Gruppen. Woher rührt diese Akzeptanz? Nicht aus der Lektüre der Bibel, die uns befiehlt Homosexuelle zu töten, und auf den Werken der intoleranten Theologen Augustinus oder Martin Luther. Sondern etwa aus den Texten wie Michel Foucaults Geschicht der Sexualität oder aus den Erkenntnissen der Biowissenschaften, dass Homosexualität etwas ganz natürliches und ungefährliches ist. Doch fromme Christen – mögen sie auch noch so fortschrittlich sein – dürfen nicht zugeben, dass sie ihre Moral von Foucault und antikirchlichen Bewegungen beziehen, sonst würde ihre gesamte Lebenslüge zusammenfallen. Stattdessen berufen sie sich auf die Bibel oder den heiligen Augustinus und lesen teilweise das Gegenteil von dem was eigentlichen drinsteht aus diesen reaktionären Schriften. Anschließend tun sie so, als stamme diese Vorstellung aus der Bibel, während sie in Wirklichkeit von Foucault herrührt. Die Bibel wird als Quelle der Autorität beibehalten, auch wenn sie für fernschriftlich denkende Menschen längst keine Inspirationsquelle ist. Auch wenn heute nominal 2 Milliarden Christen auf der Welt leben, so verbrennen sie zum größten Teil keine Hexen mehr, halten keine Sklaven und steinigen keine widerspenstigen Söhne, wie es ihre heilige Schrift empfiehlt, ihr theoretischer Bezugspunkt ist die Bibel, aber ihr Weltbild, ihre Moral und ihr Alltag werden nicht mehr von Christentum sondern immer mehr durch Humanismus und Wissenschaft bestimmt.

Natürlich werden auch in Zukunft Hunderte Millionen weiter an den Islam, das Christentum und den Hinduismus glauben. Aber Zahlen alleine zählen in der Geschichte nicht viel. Die Geschichte wird oftmals eher von kleinen Gruppen weitblickender Neuerer (zB. Transhumanisten?) als von rückwärtsgewandten Massen geprägt. Vor 10.000 Jahren waren die meisten Menschen Jäger und Sammler, und nur ein paar Pioniere im Mittleren Osten betrieben Landwirtschaft. Doch die Zukunft gehörte den Bauern. 1850 waren mehr als 90 Prozent der Menschen Bauern, und in kleinen Dörfern entlang des Ganges, des Nils und der Jangtse wusste niemand etwas von Dampfmaschinen, Eisenbahnen oder Telefonleitungen. Doch das Schicksal dieser Bauern war bereits in Manchester und Birmingham von der Handvoll Ingenieure, Politiker und Finanziers besiegelt worden, welche die industrielle Revolution vorantrieben. Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegrafen veränderten die Produktion von Nahrungsmitteln, Textilien, Fahrzeugen und Waffen und verschafften den Industriemächten einen entscheidenden Vorteil gegenüber traditionellen Agrargesellschaften.

Bild: Apple
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Kommentare: 3
  • #3

    Philoclopedia (Donnerstag, 29 April 2021 09:34)

    Die vielleicht größte Erfindung der Neuzeit ist die Idee, Wissen zu erzeugen, das auf Logik und auf Beweisen basiert und nicht auf Glauben und Gottvertrauen.
    Wenn heute das Feld eines ägyptischen Bauern von Fadenwürmern befallen ist, dann bittet er vielleicht auch mal Allah um Hilfe. Aber zuallererst wendet er sich an einen Chemiker, der ihm Pestizide besorgt.
    Wenn die Tochter eines Hindu nach einem Zeckenbiss an Borreliose erkrankt, dann opfert der Vater im Tempel Blumen. Aber erst nachdem er die Kleine ins Krankenhaus gebracht hat, in dem sie ein Antibiotikum bekommt.
    Traditionelle Glaubenssysteme haben deswegen so sehr an Boden verloren, weil sie in Dingen wie Landwirtschaft, Telekommunikation oder Gesundheitsversorgung nicht besonders gut sind.
    Natürlich spenden Religionen vielen Menschen Trost und geben Ihnen Halt. Aber das, was heutzutage das tägliche Leben von vielen verbessert, ist nicht ihr Gottglaube, sondern ihr Vertrauen in Technik und Wissenschaft.
    Naturwissenschaft ist eine lange Geschichte, wie wir gelernt haben, uns nichts mehr vorzumachen. Noch vor 400 Jahren wurde jedes Unwetter und jede Krankheit, alles was irgendwie außerhalb der Normalität war, dem Hexenwerk zugeschrieben. Heute liefern Molekularbiologie und Meteorologie eine Erklärung für das, was noch vor wenigen Jahrhunderten ausgereicht hat, um Frauen zu verbrennen.

  • #2

    kai (Donnerstag, 14 Februar 2019 10:57)

    Meine Kritikpunkte:
    1. Ich vermisse die konkreten Herausforderungen der Digitalisierung, des Klimawandels und der Globalisierung (siehe Punkt 3), denen Religiöse ratlos gegenüberstehen sollen. Nichttextualistische Deutungsansätze gibt es auch bei der juristischen Auslegung der Verfassung der Vereinigten Staaten, sind also nicht per se unlauter. Insofern können bestimmte Hinweise als zeitlos gelten und auf nicht ausdrücklich erwähnte Themen übertragen werden.
    2. "Religiöse Menschen, die ihren Glauben ernst nehmen ..." - das ist natürlich eine rhetorische Strategie der Selbstimmunisierung. Gibt es Gegenbeispiele, welche die Behauptung widerlegen könnten, kann unterstellt werden, diese Religiösen nähmen ihren Glauben nicht ernst. Das zu beurteilen, obläge wohl aber zuallererst dem Gläubigen selbst.
    3. Man kann sich natürlich fragen, welche Leistungen überhaupt in das Ressort der Religion fallen müssen - Antibiotika gehören ins Ressort der Medizin. Germanisten haben wahrscheinlich auch keine Windkraftanlagen entwickelt. Aber wem daran liegt, dass Sklaverei und Ausbeutung nicht nur ausgelagert, sondern abgeschafft werden - der Faire Handel hat seinen Ursprung im 20 Jh. im kirchlichen Umfeld.
    4. Inwiefern die Fähigkeit der Kriegsführung mit Massenvernichtungswaffen und die industrialisierte Gesellschaft mit einer 40-Stunden-Woche (statt ca. 4 Stunden pro Tag in Jäger-und-Sammler-Ethnien) wirklich einen Vorteil darstellt, der über militärische Überlegenheit hinausgeht, dürfte auch Ansichtssache sein.

  • #1

    WissensWert (Sonntag, 15 Oktober 2017 02:54)

    Das Christentum ist durch die Bibel für immer festgeschrieben.
    Der Islam ist durch den Koran für immer festgeschrieben.

    Im Gegensatz dazu werden von den Wissenschaften ständig Experimente durchgeführt.
    Aus den daraus gewonnenen Ergebnissen werden Hypothesen aufgestellt.

    Und diese Hypothesen werden mit neuen Experimenten entweder bestätig oder widerlegt.
    Je mehr die Hypothesen bestätigt werden, desto eher kann dann daraus eine Theorie entstehen.

    Wenn jetzt aus neuen Experimenten oder Beobachtungen neue Erkenntnisse gewonnen werden, dann müssen alle Hypothesen und Theorien erneut überprüft werden.

    Entweder kommt es zur weiteren Bestätigung oder die Hypothesen oder Theorien müssen verworfen werden.

    Und so entsteht immer mehr gesichertes Wissen über unsere Natur, weil die Naturwissenschaften immer ergebnisoffen sind.

    Die Ergebnisoffenheit ist der große Vorteil gegenüber den festgeschriebenen und von Menschen erfundenen Heiligen Schriften.

    Und die Atheisten entwickeln jetzt immer aus den aktuellen gesicherten Fakten ihr Weltbild und passen bei neuen gesicherten Erkenntnissen ihr Weltbild immer wieder an den aktuellen Stand der Forschungen an.

    Damit ist das Weltbild der Atheisten immer auf dem neusten Stand der Erkenntnisse.
    Jeder muss jetzt für sich entscheiden:

    Bleibe ich auf den Wissensstand von vor 2000 Jahren stehen oder orientiere ich mich immer am aktuellen Stand der Wissenschaften.

    Und die letzte Methode wird bei jungen Menschen, die eine gute Bildung haben und sich im Internet alle notwendigen Informationen besorgen können, immer beliebter.

    Das Christentum und der Islam werden unweigerlich langfristig an ihrem für immer festgeschriebenen Wissenstand von vor 2000 Jahren scheitern.

    Das ist nur noch eine Frage der Zeit und diesen Prozess kann niemand aufhalten.


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