„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Komplexitätsfalle Soziale Gerechtigkeit

Der Staat erhebt von seinen Bürgern Steuern und Abgaben nicht zum Selbstzweck, sondern er möchte damit Aufgaben finanzieren, die allen Menschen oder zumindest einem großen Teil zugute kommen. Ähnliche Überlegungen liegen der Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosigkeitsversicherung zugrunde. Da mehr oder weniger alle Bürger einzahlen (müssen) und auf die eine oder andere Art Leistungen erhalten, erhalten werden oder erhalten könnten, sollte es bei der Bemessung der Beiträge gerecht zugehen. Aber was ist gerecht?

·        Beginn der Überlegungen: Da allen Bürgern die gleiche Leistung des Staates zusteht, wird von allen der gleiche Beitrag verlangt. Ist das gerecht? Offensichtlich nicht, weil nicht klar ist, woher zum Beispiel bei Kindern oder alten Menschen das Geld stammen sollte.

·        Fortsetzung 1: Es wird von allen ein Beitrag proportional zum Einkommen verlangt. Ist das gerecht? Offensichtlich nicht, weil es Reicheren leichter fällt, mit dem verbleibenden Geld auszukommen als Armen.

·        Fortsetzung 2: Die Abgaben werden progressiv steigend gemacht, es wird mit höherem Einkommen ein prozentual höherer Betrag eingefordert. Ist das gerecht? Manchmal nicht, weil es vorkommen kann, dass von einem höheren Einkommen auch höhere Ausgaben bestritten werden müssen.

·        Fortsetzung 3: Es werden Möglichkeiten geschaffen, bestimmte Tatbestände abgabenmindernd gelten zu machen, z.B. über Steuerfreibeträge.

·       

·        Fortsetzung 999: Ehegattensplitting, Kindergeld, Pendlerpauschale, unterschiedlich hohe Freibeträge, unterschiedliche Kappungsgrenzen in der Kranken- und Rentenversicherung, Sonderabschreibung Ost, Schiffsbeteiligungen, Eigenheimzulage, etc.

Ist das Abgabensystem nun gerecht? Vermutlich haben die meisten Veränderungen eher zu einer weiteren Verschlechterung der Situation geführt, die sich vor allem in folgenden Punkten äußert:

·        Wer über viel Geld verfügt, findet mit professioneller Hilfe besser als andere die Schlupflöcher im Variantendickicht.

·        Ein großer Teil der wirtschaftlichen Ressourcen wird für die Verwaltung verwendet, was sich in einer beträchtlichen Anzahl von Steuerberatern und ähnlichen Berufen auf der einen und von Finanzbeamten auf der anderen Seite zeigt. Diese produzieren nichts, sind volkswirtschaftlich gesehen also eine Vergeudung von Ressourcen.

·        Der Normalbürger versteht das System nicht, ein nicht transparentes System kann aber niemals als gerecht empfunden werden.

Was hier im Wesentlichen für das Steuersystem geschildert wurde, gilt für die anderen staatlichen oder halbstaatlichen Systeme ebenfalls. Ein Ausriss aus dem neuen Vorschlag für die Kopfpauschale von Bert Rürup (Spiegel 29/2004, S. 29):

·        Jeder Erwachsene zahlt eine vom Einkommen unabhängige Prämie von 170 € im Monat. Für Kinder, auch die von Privatversicherten, sind 75 € fällig, die jedoch nicht die Eltern zahlen, sondern eine steuerfinanzierte Familienkasse.

·        Der bisherige Arbeitgeberanteil wird dem Bruttolohn zugeschlagen und dem Versicherten ausbezahlt. Gutverdiener haben so bis zu 250 € mehr auf dem Gehaltszettel. Doch auch der Fiskus profitiert, da der Zuschlag – abzüglich einer steuerfreien Versorgungspauschale von 70 € – dem Finanzamt angegeben werden muss.

·        Nicht alle müssen die Prämie in voller Höhe zahlen. Die Höhe, bis zu der ein Versicherter belastet werden darf, liegt bei knapp unter 13% des Bruttoeinkommens. Geringverdiener, die durch die Kopfprämie überfordert sind, bekommen somit einen Zuschuss, um die 170 € zahlen zu können.

·        Zur Finanzierung gibt es zwei Alternativen: In Variante 1 kassiert die Krankenkasse wie bisher einen Teil des Arbeitseinkommens – allerdings nur noch ein Prozent. In Variante 2 erhebt der Staat einen neuen Solidarzuschlag auf die Steuer. Gedacht ist an einen Aufschlag in der Höhe zwischen drei und fünf Prozent der Steuerschuld.

Und so weiter und so fort. Ein ähnliches Chaos findet man bei Hartz IV. Nach Beschluss des Gesetzes sind eine Unmenge von Dingen aufgefallen, die nachgebessert werden mussten. Das wäre alles noch zu verschmerzen, wenn man dem Ziel, ein gerechteres und besseres System zu schaffen, damit näher kommen würde.

Offensichtlich ist es nicht möglich, durch immer komplexere Vorschriften ein Mehr an Gerechtigkeit zu erzielen. In einer solchen Situation sollte man zu einem System zurückkehren, dass genauso gerecht oder ungerecht ist wie andere, aber das wenigstens transparent für alle Bürger ist.

Welche Anforderungen soll ein halbwegs gerechtes und transparentes System erfüllen:

·        Eine Grundsicherung für alle Bürger unabhängig von allen anderen Lebensumständen („Bürgergeld”) und

·        Ein Nettoeinkommen, das mit wachsendem Bruttoeinkommen ebenfalls steigt.

Die folgende Grafik zeigt das einfachste Modell, dass beide Forderungen erfüllt:

In der Grafik steigt das Nettoeinkommen linear von 500 auf 3000 €, wenn das Bruttoeinkommen von 0 auf 5000 € monatlich steigt. Dabei wurden für diese Grafik folgende Annahmen getroffen:

·        Unabhängig vom Einkommen wird an alle Menschen ein Bürgergeld von 500 € ausgezahlt.

·        Der Abgabensatz beträgt 50% und beinhaltet Steuern, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Aus der Sicht eines Bürgers ist es vollkommen egal, aus welchem Grund ihm Geld aus der Tasche gezogen wird.

·        Die Abgaben sind ab dem ersten verdienten Euro fällig und bleiben prozentual konstant.

Natürlich sind alle Größen rein fiktiv. Vermutlich käme man in der Praxis mit einem weit niedrigeren Hebesatz aus, weil es keine Schlupflöcher und Kappungsgrenzen mehr gibt. Wie man aus den grauen Flächen entnehmen kann, sind für kleinere Einkommen die Abgaben aufgrund des Bürgergelds negativ. Trotzdem besteht ein Anreiz zu arbeiten, weil vom ersten verdienten Euro Geld in die eigene Tasche fließt. Das Nettoeinkommen steigt linear mit dem Bruttoeinkommen.

Alle jetzigen Sondertatbestände entfallen, Beispiele:

·        Eine Schnüffelei im Privatvermögen oder im Haushalt (leben dort etwa mehrere Personen?) entfällt auch bei Nichtarbeitenden, denn das Bürgergeld steht jedem ohne Ansehen der Person zu. Ein Anreiz zur Arbeit ist trotzdem (siehe oben) automatisch ab dem ersten Euro gegeben.

·        Es entfällt das Ehegattensplitting und das Kindergeld, denn ein Bürger ist ein Bürger. Eine Familie mit Kindern hat automatisch mehr Geld zur Verfügung bei sonst gleichem Arbeitseinkommen.

·        Es entfallen alle Unterschiede zwischen verschiedenen Einkommensformen.

·        Es entfallen alle Abschreibungsmöglichkeiten.

·        Es entfallen auch Eigenheimzulage und Pendlerpauschale, denn es ist nicht Aufgabe des Staates, jemandem vorzuschreiben, wie er wohnen oder arbeiten möchte.

·        Rein formal sind eine staatliche Renten- und Arbeitslosenversicherung überflüssig, weil ein Anspruch auf das (vergleichsweise geringe) Bürgergeld besteht und bei größeren Wünschen privat angespart werden kann.

Man kann dieses Prinzip auch von natürlichen auf juristische Personen ausdehnen. Zum Beispiel stünde in diesem Fall dem Vodafone-Konzern ein monatliches „Bürgergeld” von 500 € zu. Ein Verlustvortrag von 20 Milliarden € wäre unmöglich, denn man kann gar nicht mehr ausgeben, als man besitzt. Das ist ein typisches Beispiel für Rechentricks, die sich aus unzulänglichen, weil zu komplizierten Gesetzen ergeben und die immer zu Lasten der Allgemeinheit gehen.

Die Bewegung von Geld und Material innerhalb des Landes und innerhalb der Firma wären vollkommen steuerfrei, die Ausschüttung von Gewinnen im Inland wäre von den Empfängern mit (in meinem Beispiel) 50% zu versteuern. Bei Transfer ins Ausland wäre diese Abgabe direkt vom Konzern an den Staat zu entrichten. Umgekehrt würde der Staat bei Investitionen von Geldern, die aus dem Ausland kommen, automatisch 100% hinzugeben. Das wäre keine Subvention, sondern garantiert lediglich Aufkommensneutralität, weil bei späterem Abzug der Gelder aus Deutschland mit 50% Steuern auf 200% wieder nur 100% abfließen können.

Durch die Abgaben auf die Gewinne wären die Firmen direkt an der Deckung der Kosten für die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung beteiligt. Systematisch ist das vollkommen in Ordnung, da die Betriebe indirekt über ihre Mitarbeiter von funktionierenden staatlichen Systemen profitieren.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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