„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

John Searle: Keine Funktion ohne Beobachter

1. These und Konsequenzen im Überblick

In Mind, Language and Society stellt John F. Searle die, wie er selbst meint, starke These auf: "All functions are observer-relative" (Searle 1999, 121). Der gedrängten Darstellung dieser Monographie gemäß untermauert er die These nur skizzenhaft. Prima facie möchte man zustimmen, bis Searle das Beispiel von der Funktion des Herzens vorstellt. Wie ich noch zeigen werde, sind besonders lebende Organismen oder Teile davon die härtesten Prüfsteine für Searles These. 

Ich werde im Referat Searles These als zutreffend verteidigen. 

Die These Searles schien mir so spontan zustimmungsfähig, daß ich sie für eine leicht interpretierbare und noch leichter verteidigbare Aussage hielt. Wie so oft bei philosophischen Fragestellungen erwies sich diese Vermutung als falsch. 

Die These und ihre Implikationen sind keineswegs trivial und sehr wohl der eingehenden philosophischen Erörterung wert.

Zum ersten gehört die Klärung fachgebietsübergreifender Begriffe zum ureigensten Betätigungsfeld der Philosophie. Zum zweiten hat die These, wenn sie zutrifft, auch weitreichende Folgen, beispielsweise auf teleologische Interpretationen der Natur. Drittens wirkt sich die These auf jede Art von Funktionalismus aus.

2. Funktion und Beobachter

Der Begriff Funktion ist vieldeutig. 

Er beschreibt allgemein eine Aufgabe, Tätigkeit oder Stellung, beispielsweise die Funktion eines Hotelportiers. 

In der Mathematik ist die Funktion eine Beziehung zwischen zwei Mengen, genauer, eine Zuordnungsvorschrift, die sich im einfachsten Fall durch die Gleichung y = f(x) ausdrücken läßt. Beispiel: y = x2 + 3; für das Argument x = 5 ergibt sich der Wert y = 28. 

In Medizin, Physiologie und Biologie spricht man von der funktionellen Tätigkeit eines Organismus oder Teile davon. Die hier einbezogenen Objekte werden - wie schon angedeutet - im Mittelpunkt der Diskussion stehen. 

In der Philosophie ist die Funktion eine Abhängigkeit eines Sachverhaltes, Vorgangs oder Begriffs von einem anderen. Sie wird beispielsweise bei funktionalen Erklärungen gebraucht. 

Nur aus dem Kontext geht in Mind, Language and Society[1] hervor, daß Searle die Funktion in philosophischer Bedeutung unter Einbezug natürlicher Systeme gebraucht. Die genaue Explikation des Begriffs der Funktion ist Gegenstand dieses Referats. 

Den Beobachter faßt Searle umfassend auf. Er schließt Planer, Ersteller, Handelnden und Beobachter ein. Im Folgenden ist mit Beobachter einer in diesem weiten Sinne gemeint.

3. Searles Argumentation (Searle 1999, 121-22)

Searle beginnt mit einigen Beispielen. Menschen und Tiere können Werkzeuge verwenden. Sie schreiben einem Objekt Funktion zu, die es zunächst nicht hat. Ein Affe verwendet einen Stock um eine höher aufgehängte Banane zu erlangen. Der Stock hat keine Funktion, zumindest nicht die, dem Affen das Erreichen der Banane zu ermöglichen. Menschen können einen umgefallenen Baum als Sitzgelegenheit verwenden oder mit einem Stein in der Erde graben. Natürliche Eigenschaften von Gegenstände oder Situationen werden ausgenutzt um die eigenen Absichten und Ziele zu verwirklichen.

Die impliziten Behauptungen und die daraus abgeleiteten Thesen rekonstruiere ich so:

(1) Verursachung ist beobachterunabhängig. 
(2) Funktionszuschreibung

Nur die Unterstellung einer Absicht oder eines Ziels weist einer kausalen Beziehung (oder einem Objekt innerhalb einer kausalen Beziehung) eine Funktion zu.
(3) Normativität

Innerhalb dieser Funktionszuschreibung kann man von guter oder besserer Eignung im Hinsicht auf Absicht und Ziel sprechen.
(4) Absichten und Ziele gibt es nur relativ zu einem Beobachter. 

Aus diesen vier Behauptungen formuliert Searle zwei Thesen.

 

(T1) Alle Funktionen sind beobachterabhängig. Dies folgt aus (4) und (2). 
(T2) Funktion ist Verursachung plus Normativität oder Teleologie. Dies folgt aus (2) und (3).

3.1 Erläuterung

3.1.1 Zu (1): Verursachung

Searles Auffassung von Verursachung expliziert er knapp als "a real relation among objects and events in the world" (Searle 1999, 10). Er macht sie sogar verantwortlich dafür, daß etwas passiert (Searle 1999, 59). Daraus entnehme ich, daß Searle eine realistische Interpretation der Kausalität zugrundelegt. Sie ist etwas Wirkliches in der Welt und nicht nur eine Gewohnheit (Hume) oder eine Kategorie um Erfahrung überhaupt zu ermöglichen (Kant). 

Spaemann und Löw meinen entgegen der realistischen Interpretation der Kausalität, daß es in der mechanischen Welt weder Ursachen noch Ziele unabhängig vom Beobachter gibt. Ich meine, bei Zielen kann man zustimmen; Ursachen bedürfen nur in der spezifischen Lesart von Spaemann und Löw eines interpretierenden Beobachters. Sie argumentieren so: "Jede Isolierung eines Ereignisses, das mit irgendwelchen anderen in einem gesetzmäßigen Zusammenhang steht, setzt bereits ein dieses Ereignis beobachtendes Subjekt voraus" (Spaemann, Löw 245). Ihre Argumentation ist ambivalent. Einerseits setzen sie für Kausalität bereits ein Subjekt voraus, andrerseits plädieren sie für eine teleologische Sichtweise, indem sie intrinsische Funktionen erkennen. Ich kann hier nicht die ontologischen, epistemologischen und methodologischen Probleme der Kausalität explizieren, sie werden in ähnlicher Form bei der Teleologie wieder auftauchen. Schon Demokrit sagte, er wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung finden, als daß ihm das Perserreich zu eigen werde (Diels 106). Begnügen wir uns mit einer nüchternen Interpretation der Kausaliät als einer zweistelligen Relation zwischen Ereignissen in Raum und Zeit. Es gibt eine zeitliche Ordnung: Ursache A vor Wirkung B und einen gesetzmäßigen Zusammenhang: wenn A dann B. Von der Ursache aus kann die Wirkung mit diesem Gesetz erklärt werden. In der klassischen Physik kann jedes Ereignis als Wirkung aufgefasst werden, deren Ursache wiederum Wirkung einer weiteren Ursache ist.

3.1.2 Zu (2): Funktionszuschreibung

Das Ziel ist ein zukünftiger Zustand, dem ein Wert zugeschrieben wird. Die Realisierung des Ziels wird so erstrebenswert. Dies motiviert zur Handlung. Die von einem Ziel geleitete Handlung ist eine absichtsvolle (im Gegensatz beispielsweise zu einer Reflexhandlung). Searle behandelt das aus dem Blickwinkel des Bewußtseins als "intentional causation" (Searle 1999, 64-65). Bei Aristoteles ist Ziel (griechisch telos, lateinisch finis) eine der vier Ursachen, um derentwillen alles geschieht. Eng verwandt mit dem Wortfeld Ziel und Absicht ist der Zweck. Er ist die bewusste Absicht einer Handlung, Ziel eines Tuns oder Vorgangs. Jeder Zweck kann auch als Ziel gesehen werden. Trotzdem gibt es umgangssprachliche Unterschiede. Eine Uhr hat den Zweck, die Zeit anzuzeigen, aber kein Ziel in dem Sinne, daß sie einen bestimmten Zustand erreichen soll. Das Ziel wird erst dann zum Zweck, wenn die zu seiner Realisierung notwendigen Mittel mit reflektiert werden. Wir werden später auf Kants reflektierende Urteilskraft aus der Kritik der Urteilskraft stossen. 

Der Zweck ist enger an das Subjekt gebunden als das Ziel. Das wird deutlich beim Vergleich der Verben "bezwecken" und "zielen". Der Golfer zielt auf das Loch und bezweckt damit einen tadellosen Schuß. Zur Realisierung des vorgestellten künftigen Zustands sind noch zahlreiche andere Handlungsteile nötig, wie Körperhaltung und konzentrierte Bewegung. Dem Golfschläger, im primitivsten Fall ein Stück Eisen oder Holz kommt im Rahmen der Handlung eine Funktion zu. 

Die Funktionszuschreibung setzt Intention voraus, die ohne das Vorhandensein von Bewußtsein nicht gedacht werden kann.

3.1.3 Zu (3): Normativität

Mit der Zuschreibung eines Wertes zum Ziel kommt eine Normativität in die Handlung. Meist stehen mehrere Mittel und Wege zur Zielerreichung zur Auswahl. Die eingesetzten Objekte eignen sich gut oder besser im Hinblick auf das Ziel. Ein moderner Golfschläger funktioniert besser für das beabsichtigte Ziel als ein Holzknüppel. 

3.1.4 Zu (T1): Alle Funktionen sind beobachterabhängig

Das Argument ist mit den Behauptungen (4) und (2) als Prämissen gültig. Allerdings sind bei beiden Behauptungen Zweifel angebracht. Gibt es nicht auch Funktionen unabhängig von jedem Beobachter, sogenannte intrinsische Funktionen? Ein erster indirekter Hinweis darauf ist Searles eigene Formulierung "where the function is not intrinsic to the object but has to be assigned ..." (Searle 1999, 121). Dies läßt die Möglichkeit einer intrinsischen Funktion ausdrücklich zu. Die Beantwortung der soeben gestellten Frage nach der intrinsischen Funktion und wie man sich diese vorzustellen hat, werde ich im Folgenden versuchen.

Die Behauptung (1) geht hier indirekt in Searles Argumentation ein. Wäre bereits die Verursachung vom Beobachter abhängig (diese Position wird vertreten und wurde schon kurz erwähnt), so ist die Verursachung plus Absicht oder Ziel a forteriori beobachterabhängig.

3.1.5 Zu (T2): Funktion ist Verursachung plus Normativität oder Teleologie

Das "oder" ist nicht als ein Entweder-oder zu verstehen, sondern so, daß Normativität und Teleologie mehr oder minder dasselbe bewirken. Die vermutete oder tatsächliche Teleologie setzt eine Norm. Die Funktion kann an dieser Norm gemessen werden. In meiner Lesart erfordert sowohl Normativität als auch Teleologie ein Norm setzendes oder Ziel vorgebendes Subjekt. 

Die Teleologie ist die Lehre von der Zielgerichtetheit, Zielstrebigkeit, vom Zweck oder Zweckmäßigkeit im Universum insgesamt oder in seinen Teilbereichen, besonders bei Naturereignissen, menschlichen Handlungen oder im Geschichtsverlauf. Eine teleologische Erklärung versucht X auf ein Ziel Y hin zu erklären.

4. Konsequenzen

Trifft Searles These (T1) "Alle Funktionen sind beobachterabhängig" zu, hat sie bei aller scheinbarer Trivialität wichtige Konsequenzen.

1.    Es gibt kein Objekte und keinen Vorgang in der Welt mit intrinsischer Funktion. Mit intrinsischer Funktion hatte ich Funktionen bezeichnet, die unabhängig von jedem Beobachter sind. Die Funktion liegt dabei im Wesen des Objektes. Ein möglicher Widerlegungsversuch der These Searles wird darin bestehen, diese Konsequenz zu falsifizieren, das heißt Objekte aufzuzeigen, deren Funktion beobachterlos vorhanden ist. Sie müßte ohne Beobachter erklärt werden können.

2.    Die Wissenschaften versuchen in ihren Theorien vom Beobachter zu abstrahieren. Folgt man als Wissenschaftler Searles These und will man ohne Beobachter bei seinen Erklärungen auskommen, muß man alle Funktionen der Objekte und Vorgänge der Theorie als nur scheinbar entlarven. Man muß sie naturalistisch erklären. Wird der Beobachter selbst zum Bestandteil wissenschaftlicher Theorien, wie z. B. in der Psychologie, so wird er zum Objekt. Dies kann durch eine sorgfältige Trennung von Subjekt und Objekt innerhalb der Theorie bewältigt. Schwierig wird es bei Theorien, wie z. B. über das Bewußtsein, wenn die behaovristische Betrachtungsweise nicht ausreicht. Beispiel: Qualia-Diskussion in der Theorie des Geistes. Dabei sind der Subjekt / Objekt Trennung auch Probleme des Fremdpsychischen zu beachten.

 

3.    Gelingt es für mindestens eine Funktion nicht sie naturalistisch zu erklären, kann man aus (T1) auf ein Subjekt schließen, das die Funktion zugeschrieben hat. Im weitestgehenden Fall wäre dies ein teleologischer Gottesbeweis.

4.    Aus These (T2) "Funktion ist Verursachung plus Normativität oder Teleologie" in Zusammenhang mit dem notwendigen Beobachter aus These (T1) ergeben sich auch ethische Konsequenzen. An Funktion ist Normativität gebunden. Nur ein Objekt, dem Funktion zugeschrieben wird, kann funktionsuntüchtig sein, kann seine Funktion gut oder besser erfüllen. Jede Ethik setzt Werte und Normen voraus oder konstitutiert sie. Akzeptierte Werte und Normen haben eine handlungsbestimmende Funktion. Wenn also umgekehrt Normativität, zumindest sofern sie handlungsleitend ist, mit Funktion einhergeht, impliziert Searles These, daß Normativität und damit Ethik nur subjekt-relativ eingeführt werden kann. Das wäre ein Abgesang für Naturrecht und naturalistischer Begründung von Ethik.

Interessante Teilfragen mit weiteren Konsequenzen: gibt es eine zwar nicht intrinsische aber doch subjekt-übergreifende Funktion, also beispielsweise eine Funktion des Weltablaufs? Sind irgendwelche Funktionszuschreibungen ausgezeichnet, beispielweise die des Erstellers eines Objekts, so daß sie von jedem Nutzer anerkannt werden? Oder ist die Funktion nicht nur beobachter-abhängig, sondern auch beobachter-relativ in dem Sinne, daß für jeden Beobachter eine andere Funktion relevant ist? Die Beantwortung dieser Teilfragen übersteigt den Rahmen des Referats, ebenso wie die Untersuchung der Auswirkungen auf die verschiedenen Arten von Funktionalismus. 

Ich meine, ich habe überzeugend dargelegt, daß die beiden Thesen Searles weitgehende Auswirkungen auf die Interpretation von Kausalität und Teleologie bis hin zur Ethik haben.

5. Widerlegungsversuch

Wie schon unter Konsequenzen angedeutet kann eine Widerlegung der Thesen Searles durch Angriff auf Prämisse (4) versucht werden. Man untersucht Objekte und deren Funktion. Wird wenigstens ein Objekt mit intrinsischer Funktion gefunden, ist Searles These widerlegt. Die intrinsische Funktion muß ohne Ersteller oder Beobachter erklärt werden können. 

Dabei teile ich die Menge aller zu untersuchender Objekte zunächst in künstliche, d. h. von Menschen oder Maschinen geschaffene und natürliche. Die zweite Teilmenge teile ich wiederum in nicht-lebende und lebende Objekte. 

Die Teilung in künstliche und natürliche Objekte ist nicht so einfach, wie es zunächst scheinen mag. Ohne die Entstehung der Objekte zu kennen ist es sogar unmöglich eine Unterscheidung zu treffen (Monod 26). Da wir von einigen Objekten jedoch ihre künstliche Entstehung, also ihren letzlichen Ursprung durch ein entwerfendes Subjekt kennen, spricht die Nicht-Unterscheidbarkeit eher dafür, als Ausgangshypothese auch für die ununterscheidbaren natürlichen Objekte ein entwerfendes Subjekt anzunehmen. Will man diese Hypothese nicht mittragen, gilt es also - um Searles These zu verteidigen - besonders auf die natürlichen Objekte das Augenmerk zu richten und eine Erklärung ohne Beobachter zu finden. 

5.1 Künstliche Objekte

Künstliche Objekte sind per definitionem durch ein Subjekt erstellt und durch dieses mit einer Funktion versehen. 

Beispiele: 

Die Tankanzeige (das Lieblingsbeispiel für repräsentationale Systeme bei Fred Dretske) erhält ihre Funktion einzig durch den Ersteller und den Nutzer. 

Das Messer hat ursprünglich eine Schneidefunktion. Durch den Benutzer kann diese Funktion aber marginalisiert werden. Das Messer wird im Zirkus zum nervenkitzelnden Wurfinstrument umfunktioniert.

Das Stoppschild erhält seine Form und Funktion durch gesellschaftliche Vereinbarung, das ist hier die Straßenverkehrsordnung. 

Nach einem bekannten Bonmot haben in Griechenland die Verkehrsampeln nur empfehlenden Charakter, während ihre Funktion in Deutschland sehr restriktiv ist.

Das künstliche Herz hat die Funktion, die lebenserhaltenden Funktionen des natürlichen Herzens zu übernehmen. Andere Funktionen des natürlichen Herzens, wie beispielsweise Herztöne sind dabei irrelevant. So waren die Herz-Lungenmaschinen in der Mitte des 20. Jhdts. außerhalb des menschlichen Körpers und erinnerten kaum an ein natürliches Herz. 

Eine Rauchsäule kann natürlichen oder künstlichen Ursprungs sein. Sie entsteht kausal durch den Verbrennungsvorgang und seine Interaktion mit der Umgebung. Vom menschlichen Interpreten kann die Rauchsäule als Windrichtungsanzeiger verwendet werden. 

5.2 Natürliche, nicht-lebende Objekte

Ein Gebirgsbach schiebt Steine ins Tal. Doch wird man weder diese Funktion noch seine Funktion als Trinkwasserreservoir als intrinsische Funktion ansehen. Der Bach brachte schon vor Millionen von Jahren, als es noch keine Beobachter gab, Steine ins Tal. Weder dies noch seine Entwässerungsfunktion oder sonst etwas erscheint mir als die Aufgabe eines Baches. Er fließt gemäß der Schwerkraft und flußdynamischer Gesetze. Damit ist alles gesagt. 

Der Nutzen und damit die funktionale Interpretation des Regens ist beim Großstädter anders (Verhinderung des Wochenendausflugs) als beim Bauern (Beschleunigung des Wachstums) oder Gartenliebhaber (Einsparung der Berieselung). Der Meteorologe wird eine eher kausale Funktionsbeschreibung geben. 

5.3 Lebende Objekte und Teile davon

Hier betreten wir strittigen Boden. Vielen lebenden Organismen oder Teilen davon wird man spontan eine intrinsische Funktion zuerkennen. Ist es nicht die Funktion des Herzens, in dem Körper die Blutzirkulation sicher zu stellen? Zunächst meint man, Searle habe mit der Funktion des Herzens, Blut durch den Körper zu pumpen, seine eigene These widerlegt. Doch dann pflichtet man dem Einwand bei, daß dieses Organ die Funktion als Blutpumpe nur zugeschrieben bekommt. Man setzt bei dieser Zuschreibung beispielsweise voraus, daß das Herz dazu dient, das Leben des Organismus aufrecht zu erhalten. Die zugrundegelegte Zielvorstellung setzt ein sinngebendes Subjekt voraus. Ein gutes Herz übt die zugeschriebene Pumpfunktion einwandfrei aus. Die Geräuschentwicklung andrerseits ist ein in diesem Zusammenhang irrelevanter Nebeneffekt. Ein Herz kann nur dann als gut oder krank bezeichnet werden, wenn es eine Norm gibt. Wenn man die Position vertritt, daß Normen nur subjekt-bezogen auftreten (ergibt sich aus den Prämissen (2) bis (4)), ist damit Searles These gerettet. Eine Erklärung für die Entstehung der Blutpumpe Herz ohne Designer wurde durch die Evolutionstheorie möglich. 

Bevor ich diese Elimination der scheinbar intrinsischen Funktion beim Herzen und ähnlicher Teilorganismen durch die Evolution erkläre, werfe ich noch einen Blick auf zwei spezielle Einwände.

5.4 Spezielle Einwände

5.4.1 Regelsysteme

In der Natur gibt es viele regulativen Systeme. Ich klammere die Frage aus, ob es sie nicht sogar in der unbelebten Natur gibt (Wasserkreislauf, Wettergeschehen). Zweifelsohne finden wir sich selbst steuernde Systeme im Bereich des Lebendigen. Man denke an das Immunsystem der höheren Arten, an die Homöostasie, das ist die Gleichgewichtsregulation der Körperfunktionen, oder an symbiotische Systeme unter Beteiligung mehrerer Arten. 

Über diese Regelsysteme zu sprechen ist nur sinnvoll, wenn wir Ziele und Normen, wie beispielsweise die Bandbreite der normalen Körpertemperatur voraussetzen. Mit dieser Argumentation greift von Uexküll die These an, daß es im Bereich des Physischen keine Zwecke gäbe (Uexküll 86-87). Diese These entspricht inhaltlich der Prämisse (4) bei Searle. 

Dem ist entgegen zu halten:

Die regulativen Systeme sind evolutionär ohne Subjekt erklärbar. Wenn man bei einem symbiotischen Verhältnis die gegenseitige Arterhaltung zur Funktion innerhalb dieser Symbiose erklärt, so hat man die Arterhaltung gegenüber der Artvernichtung ausgezeichnet. Nun tritt aber im Evolutionsverlauf die Artvernichtung sehr viel häufiger auf als die Arterhaltung. Denkt man sich die bisherige Evolution der Arten als einen Baum, so enden die überwiegend meisten Zweige durch Artensterben. So ist die Bevorzugung der Arterhaltung und ihre Grundlegung zur funktionalen Erklärung eine willkürliche. Aus der Sicht der Artvernichtung ist die Symbiose ein disfunktionales System. 

Wir kommen aber nicht umhin, wie Kant ausführt (siehe die folgenden Abschnitte), diese Systeme teleologisch aufzufassen. Allerdings kann diese teleologische Betrachtung in Zusammenhang mit der evolutionären Erklärung als facon de parler aufgefasst werden.

5.4.2 Zweckmäßigkeit als Begriff der reflektierenden Urteilskraft

Immanuel Kant beschäftigt sich mit Zwecken und Teleologie hauptsächlich in der Kritik der Urteilskraft. Doch er äußert sich dazu schon vorher, beispielsweise in Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien.

In Organismen ("organisierte Wesen") ist alles wechselseitig Zweck und Mittel. Oft bleibt der menschlichen Vernunft nach Kant statt der physisch-mechanischen Erklärung nur die teleologische (Kant Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien. A126-127). Kant formuliert für die Zwecke Searles These bereits vor. "Z w e c k e haben eine gerade Beziehung auf V e r n u n f t, sie mag nun eine fremde, oder unsere eigene sein. Allein, um sie auch in fremder Vernunft zu setzen, müssen wir unsere eigene, wenigstens als ein Analogon derselben, zum Grunde legen; weil sie ohne diese gar nicht vorgestellt werden können" (A132; Sperrung im Original). Damit sich der Mensch in der Mannigfaltigkeit der Welt zurechtfinden kann (Klassifikation des Besonderen in geeignete allgemeine Begriffe), damit er Handeln kann (Handeln setzt Konstanz der Naturgesetze und vieles mehr voraus), muß er annehmen, daß die Natur seiner Fassungskraft und Urteilskraft zugänglich ist. Sie muß sich zur Klassifikation und Spezifizierung geeignet, das heißt in gewisser Hinsicht zweckmäßig sein (Düsing 60). Die Zweckmäßigkeit in der Natur sieht er als einen eigentümlichen Begriff der reflektierenden Urteilskraft, "indem der Zweck gar nicht im Objekt, sondern lediglich im Subjekt und zwar dessen bloßem Vermögen zu reflektieren gesetzt wird" (Kant Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 193). Die reflektierende Urteilskraft (im Gegensatz zur bestimmenden) ist das Beurteilungsvermögen (188). Die Zweckmäßigkeit in der Natur ist entweder natürlich oder absichtlich. Die Erfahrung berechtigt nur zur natürlichen Zweckmäßigkeit (213). Dabei unterscheidet Kant zwischen Zweck und Absicht. Der Begriff der Naturzwecke ist nur ein Begriff der reflektierenden Urteilskraft "um der Kausalverbindung an Gegenständen der Erfahrung nachzugehen. Durch ein teleologisches Prinzip der Erklärung der innern Möglichkeit gewisser Naturformen wird unbestimmt gelassen, ob die Zweckmäßigkeit derselben absichtlich, oder unabsichtlich sei" (215). 

5.4.3 Naturzwecke

Nach Kant hat man zwar guten Grund eine subjektive Zweckmäßigkeit in der Natur anzunehmen. Die Erfahrung kann aber die Wirklichkeit einer besonderen Art von Kausalität nicht beweisen (Kant Kritik der Urteilskraft A263-64). Gleichwohl kann die teleologische Beurteilung von Naturvorgängen der Naturforschung als Forschungsprinzip dienen. Man kann damit Beobachtetes bestimmen aber nicht erklären (A265). 

Kant unterscheidet eine formale Zweckmäßigkeit (beispielweise bei geometrischen Figuren) von einer materialen. Die formale ist Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die materiale oder reale ist empirisch feststellbar und von einem Zweck abhängig (A272). Beispiel: die zweckmäßige Anlage eines Gartens.

Für Kant kommt eine materiale Zweckmäßigkeit immer zu einem Ursache-Wirkung Verhältnis hinzu. Er gibt viele Beispiele, wo die Zweckmäßigkeit in der Natur nur eine scheinbare ist. Allerdings sieht es Kant bei einer besonderen Klasse von Naturobjekten als angemessen an, von Naturzwecken zu sprechen. 

Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist (A282). Am Beispiel Baum zeigt Kant dies auf dreierlei Weise. 

Der Baum erzeugt einen anderen Baum und erhält so die Gattung. 

Der Baum wächst und erzeugt sich so als Individuum. 

Ein Teil (Pfropfreis) erzeugt sich auf einen anderen Stamm selbst. Die Blätter und Zweige erhalten sich gegenseitig (A283-84). 

Ein so organisiertes Wesen , in dem sich auch die Teile (Organe) wechselseitig hervorbringen, wird man "als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck" (A288) nennen können. Aber selbst da, wo man daher in der Wissenschaft von Zwecken sprechen kann, enthält man sich der Antwort auf die Frage, ob diese Naturzwecke absichtlich oder unabsichtlich, da dies Metaphysik wäre (A304). Ich meine, die sehr differenzierte Sichtweise Kants gibt keinen Anlaß die Thesen Searles (T1) "Alle Funktionen sind beobachterabhängig" und (T2) "Funktion ist Verursachung plus Normativität oder Teleologie" zu verwerfen. Kants Naturzwecke sind ein notwendiges und hilfreiches Forschungsprinzip das immer zu kausalen Vorgängen hinzukommt.

6 Anpassung und Selektion in der Evolutionstheorie

Wenn Organismen das Ergebnis von intelligenter Erzeugung sind, dann könnte man über die Funktion der Wühlmaus oder des Herzens ähnlich sprechen wie über die Funktion eines Messers. Der Erzeuger wäre das Subjekt, das Absichten hat und Funktion vorgibt. Nun spricht man aber ständig über biologische Organismen und Teilen davon funktional. Nach Searles These kommt damit Normativität und Teleologie und letztlich ein Subjekt ins Geschehen. Muß man damit entweder einen Erzeuger in der Biologie annehmen oder Searles Thesen verwerfen? 

Ähnlich wie schon in der Physik fordert Elliott Sober die Teleologie auch aus der Biologie zu eliminieren (Sober 1993, S. 83). Dem kann man entsprechen, wenn man die Funktionssprechweise etwa im Sinne Kants auffasst und in der Biologie für Organismen, ihre Entstehung und ihr Verhalten, eine natürliche Erklärung gibt. 

Die funktionale Beschreibung verwenden wir, weil wir gewissen Werte priorisieren und die Vorgänge daran messen. Würden wir statt Lebenserhaltung den Tod bevorzugen (das Artensterben ist in der Natur häufiger als die Erhaltung einer Art), wäre beispielsweise das Herz disfunktional. In "The Country of the Blind" beschreibt Herbert G. Wells ein abgeschiedenes Tal mit blinden Bewohnern. Zufällig gerät ein Sehender dorthin und meint nach einem Sprichwort, unter Blinden sei der Einäugige König. Doch die Talbewohner weisen nach, daß seine Sehfähigkeit eine Fehlfunktion ist. Nur ein operativer Eingriff kann den Eindringling "heilen". 

Darwins Evolutionstheorie erlaubte es vordem teleologisch gedachte Funktionen zu naturalisieren. Variation entsteht demnach durch kleine Änderungen von Generation zu Generation, die durch zufällige Mutationen verursacht werden. Manche dieser Änderungen gewährleisten einen Vorteil bei der Reproduktion. Diese Veränderungen erweisen sich als zweckmäßiger, sie passen die Population der Organismen besser an die Umweltbedingungen an. Übrig bleiben also über lange Zeiträume genau diese Arten: sie werden selektiert. Eigentlich werden aber nicht die besser angepassten Arten selektiert, sondern die schlechter angepassten ausgemerzt. 

Die Begriffe Mutation und Selektion beziehen sich auf die Vergangenheit. Das Herz ist gegenüber anderen Mutationen ein Selektionsvorteil. Es pumpt Blut und gibt Organismen mit Herz einen reproduktiv-relevanten Vorteil. Die Selektion der Arten mit Herz wäre wohl auch geschehen, wenn das Herz völlig lautlos arbeiten würde. Nur so gesehen, ist das Blut zu pumpen die wesentliche Eigenschaft des Herzens und seine Geräuschentwicklung eine unwesentliche. Das Herz entstand aber ursächlich nicht, weil Blut pumpen eine brauchbare Funktion war, sondern diese Funktion erwies sich nur im Nachhinein als reproduktiver Vorteil. 

Mutation und Selektion wird – soweit wir es wissenschaftlich feststellen können – von niemanden veranlaßt oder durchgeführt. Sie passiert. 

Deutlich wird der Unterschied zwischen kausaler Aussage und normativer durch: Kausal: Das Herz bewirkt, daß Blut gepumpt wird. 

Normativ / funktional: Die Aufgabe (Funktion) des Herzens ist es, Blut zu pumpen. Die kausale Aussage genügt um die Blutpumpeigenschaft, als einer von vielen Eigenschaften des Herzens, zu beschreiben (Searle 1996, 69). Normativ / funktionale Aussagen lassen sich in kausale übersetzen. Allerdings geht bei dieser Übersetzung die Normativität verloren. Dies zeigt: man kommt bei Erklärungen auch ohne ihr aus. 

Hinweis: die These Searles läßt diesmal (im Gegensatz zu Funktion versus Normativität) den Umkehrschluß nicht zu. Für die Erklärung der biologischen Organismen und ihrer Funktion ist ein Schöpfer unnötig, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Thesen Searles verneinen nicht die Existenz Gottes. Sie verneinen "nur" eine dem Universum zugrunde liegende Teleologie. Oder noch genauer: Sie bestätigen, zusammen mit der Evolutionstheorie, daß die Erklärung der Natur ohne Teleologie auskommt.

7 Die drei Typen von Repräsentationsmodellen von Fred Dretske

Die drei Typen von Repräsentationsmodellen, die Fred Dretske in Explaining Behaviouraufstellt, verleiten dazu Searles Thesen in Frage zu stellen. Die Repräsentation darf aber nicht mit Funktion verwechselt werden, obwohl es bei vielen Objekten eine faktische Gleichsetzung gibt. Die Tankanzeige hat die Funktion den Füllungsgrad des Tankes anzuzeigen. Sie repräsentiert die Tankfüllung. Doch wenn man beispielsweise Dretske folgt, daß die Länge jeden Eisenstabs ein einfache Repräsentation von Temperatur ist, sieht man, daß Repräsentation nicht gleich Funktion ist. Ein Eisenstab hat nicht die Funktion einer Temperaturanzeige. Nur von einem Nutzer kann er dazu gemacht werden. 

Teilfrage: "Broken clocks are never right, not even twice a day, if being right requires them to indicate the correct time of day" (Dretske 56). 

Hat Dretske recht und wie kann man dies begründen? 

Das geht wiederum am einfachsten mit Dretskes Standardbeispiel der Tankanzeige und einer reductio ad absurdum. 

Eine kaputte Tankanzeige (deren Verbindung zum Tank unterbrochen ist) befinde sich in Wasserburg am Inn und zeigt beispielsweise ständig auf 1/2. 

Behauptung:

(1) diese Tankanzeige würde im Zeitraum zwischen dem Volltanken und dem Verbrauch des Treibstoffs den Tank einmal exakt richtig anzeigen. 
(2) Nach Voraussetzung gibt es keine Verbindung zum Tank. 
Es gilt daher genauso 
(3) diese Tankanzeige in Wasserburg am Inn würde während jeder Tankfüllung (und Verbrauch) den Tank eines Jeeps im Irak einmal exakt richtig anzeigen. 
Es gilt daher genauso gut 
(4) diese Tankanzeige in Wasserburg am Inn würde den Flascheninhalt einer Coca Cola Flasche in Taiwan während des Austrinkens einmal exakt richtig anzeigen.

Das scheint absurd. Die Frage mit der kaputten Uhr wurde übrigens zuerst von Lewis Carroll 1850 diskutiert in: The Rectory Umbrella, M.S. First published 1898.

8. Entstehung eines funktionierenden Bewußtseins

Setzt Funktion ein Subjekt voraus, erschwert dies die Erklärung der Entstehung eines funktionierenden Bewußtseins. Wie kann die Entstehung eines funktionierenden Bewußtseins (siehe Kapitel "The Function of Consciousness", Searle 1999, 62ff) erklärt werden, wenn für die Funktionalität bereits ein Subjekt notwendig ist? Da ein Subjekt im hier verstandenen Sinne, das Absichten hat, Ziele vorgibt, immer ein Subjekt mit funktionierendem Bewußtsein ist, scheint hier ein Zirkel vorzuliegen. Subjekt ist nötig für Funktion. 

Subjekt hat notwendigerweise ein funktionierendes Bewußtsein. 

Für ein funktionierendes Bewußtsein ist aber bereits ein Subjekt nötig.

Ich meine, auch hier greift die evolutionäre Erklärung von Anpassung, Selektion und Funktion. Die Funktion des Bewußtseins ist es nur in die Vergangenheit gesehen, Funktion zu "vergeben". Der Subjektsbegriff im hier verstandenen Sinn geht Hand in Hand mit einem funktionierenden Bewußtsein. Mit der Heranbildung eines funktionierenden Bewußtseins entstanden Subjekte.

9. Teleologie

Welchen Stellenwert hat nach der Naturalisierung teleologischer Erklärungen und Transformation funktionaler Erklärungen in kausale die Teleologie noch? Wie können teleologische Erklärungen aufgefasst werden? 

Dazu unterscheidet Wolfgang Stegmüller zunächst formale Teleologie von materialer. 

9.1 Formale Teleologie

Formale teleologische Erklärungen reduzieren den Vorgang auf ein zeitliches Verhältnis. Es wird nur der Zeitfaktor berücksichtigt. Ebenso wie man sich bei der Kausalität vom metaphysischen Begriff der kausalen Notwendigkeit befreit, läßt man die finale Notwendigkeit (siehe unten) fallen. Die formale teleologische Erklärung beantwortet Was ist?-Fragen. 

9.2 Materiale Teleologie

Die inhaltliche oder materiale Teleologie beantwortet dagegen Warum?-Fragen. Es wird geantwortet mit "damit ..." oder "um ... zu ...". Dabei unterscheidet Stegmüller echte materiale Teleologie von scheinbarer. 

Fällen von echter materialer Teleologie liegt bewußtes (menschliches) Handeln mit Zwecken und Absichten zugrunde. Im normalen, vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch ist von Zwecken und Zielen die Rede, wenn ein zwecksetzender Wille vorhanden ist. Jeder Fall von echter Teleologie ist zugleich ein Fall von echter Kausalität (Stegmüller 642). 

Bei scheinbarer materialer Teleologie handelt es sich um ein zielgerichtetes Verhalten von nicht zwecksetzender Art; es handelt sich um eine als-ob-Betrachtung, eine facon de parler

Man spricht "in der Teleologie zwar von der Natur als ob die Zweckmäßigkeit in ihr absichtlich sei, aber doch zugleich so, daß man der Natur, d. i. der Materie, diese Absicht beilegt; wobei man ... anzeigen will, daß dieses Wort hier nur ein Prinzip der reflektierenden nicht der bestimmenden Urteilskraft bedeute, und also keinen besonderen Grund der Kausalität einführen soll, sondern auch nur zum Gebrauche der Vernunft eine andere Art der Nachforschung, als die nach mechanischen Gesetzen ist, hinzufüge, um die Unzulänglichkeit der letzteren, selbst zur empirischen Aufsuchung aller besonderen Gesetze der Natur, zu ergänzen." (Kant Kritik der Urteilskraft A304-05). Als wäre dies noch nicht deutlich genug, warnt Kant davor, unabhängig von aller Erfahrung eine neue Grundkraft (beispielsweise eine teleologische oder gar eine Rückwärtskausalität) zu erdenken. Die Vernunft hat keine Befugnis, sich eine Grundkraft zu erdichten (Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien, A131). Diese Grundkraft wäre ein Fall der oben von Stegmüller erwähnten finalen Notwendigkeit: ein zeitlich späteres Determinans zwingt oder nötigt das zeitlich frühere Determinatum zu einem bestimmten Verhalten. Mit Grundlegung einer ontologischen Ausprägung der Teleologie könnte man mit dem französischen Surrealisten Jean-Claude Silbermann sagen: "Jeder planlos geworfene Stein bewegt sich mit erstaunlicher Präzision auf die Stelle zu, an der er schließlich landet." 

9.3 Teleonomie

Um in der Biologie nicht in den Verdacht irgendwelcher, ontologisch beladener teleologischen Aussagen zu kommen, führte man den Begriff der Teleonomie ein. Dieser beschreibt im Sinne der Evolutionstheorie Vorgänge der Vergangenheit, während die echte Teleologie von einem zukünftigen Ziel in die Gegenwart argumentiert. 

9.4 Semantische Trivialität über Teleologie

Stegmüller löst die Problematik um Teleologie und Zwecksetzung durch eine semantische Definition, die er Semantische Trivialität über Teleologie STT nennt. "Wer immer, ohne den Boden der normalen Sprache zu verlassen, von Zwecken, Zielen oder etwa auch von Plänen, spricht, der setzt damit ausdrücklich die Existenz eines zwecksetzenden, die Ziele verfolgendes, die Pläne entwerfenden und verwirklichenden Verstandes oder Willens voraus. Macht er keine derartige Voraussetzung, so liegt zumindest eine mißverständliche Redeweise vor." (758-59). Nach den vorausgehenden Überlegungen zu den inhaltlich gleichlautenden Thesen Searles stimme ich der STT prinzipiell zu, beschränke ihre Gültigkeit aber auf eine streng wissenschaftliche Sprechweise. Gerade im Bereich der Biologie kommt man nicht ohne zwecksetzender Sprache aus, ohne daß man deshalb ontologische Verpflichtungen eingeht. Man sollte daher teleologische oder funktionale Aussagen in der Biologie ohne weiteres zulassen. "We shall therefore assume that teleological (or functional) statements in biology normally neither assert nor presuppose in the materials under discussion either manifest or latent purposes, aims, objectives, or goals." (Nagel 323). Zumal teleologische Erklärungen – wie ich bereits bemerkt habe – ohne Inhaltsverlust in äquivalente nicht-teleologische Erklärungen umgeformt werden können.

10. Funktion

Vielleicht erwartet jemand zum Abschluß dieses Referats eine Explikation des philosophischen Funktionsbegriffs. Dazu wurde hier schon vieles festgestellt. Die eigentliche Schwierigkeit scheint mir zu sein, wesentliche Eigenschaften von nur kontingenten, nebensächlichen zu unterscheiden. Viel Beachtung fand jedenfalls Larry Wrights Vorschlag: 

Die Funktion des X ist Z bedeutet:

(a) X ist da (gibt es), weil es Z macht 
(b) Z ist eine Folge davon, daß X da ist. (Wright 363) 
(a) ist die aetiologische Form (herkunftserklärend; englisch: ethiological) der funktionalen Erklärung.

Selbstverständlich wurden seitdem Beispiele gefunden um Wrights Explikation als unzureichend nachzuweisen. Eine gute Zusammenfassung der Diskussion fand ich in "Eine aetiologische Funktionstheorie – Larry Wright" (Stange 142-49), die zusammenfassend meint, "daß Wrights Versuch, einen möglichst breiten Funktionsbegriff mit seiner Definition einzuführen, nicht vollständig gelungen ist" (Stange 148-49).

11. Fußnoten

[1] In der zitierten Ausgabe von Mind, Language and Society war man sich über die Kommasetzung nicht einig. Im Englischen ist Mind, Language, and Society üblich, doch auch das "deutsche" Weglassen des Kommas vor "und" ist zulässig. In der zitierten Ausgabe werden beide Schreibweisen verwendet.

12. Literatur

Carroll, Lewis: The Rectory Umbrella, 1898. 
Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957. 
Dretske, Fred: Explaining Behavior. Reasons in a World of Causes. Cambridge, Mass. 1988. 
Düsing, Klaus: Die Teleologie in Kants Weltbegriff. Bonn 1986. 
Kant, Immanuel: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schriften 1
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schriften 2
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schriften 1. Frankfurt am Main 1964. 
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schriften 2. Frankfurt am Main 1964. 
Kant, Immanuel: Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien. In: Kant, Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische Schriften 1. 
Monod, Jacques: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München 1996. 
Nagel, Ernst: "The Structure of Teleological Explanations". In: Sober, Conceptual Issues in Evolutionary Biology. S. 319-346. 
Searle, John R.: Mind, Language and Society. Philosophy in the Real World. London 1999. Searle, John R.: Die Wiederentdeckung des Geistes. [The Rediscovery of the Mind] Harvey P. Gavagai, Übs. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996. 
Sober, Elliott: Conceptual issues in evolutionary biology. An anthology. Cambridge, Mass. MIT, 1986.
Sober, Elliott: Philosophy of Biology. Boulder, San Francisco 1993. 
Spaemann, Robert; Löw, Reinhard: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München 1991. 
Stange, Christiane: Teleofunktionalismus. Eine Alternative zum Klassischen Funktionalismus in der Philosophie des Geistes? Bochum 2000. 
Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytische Philosophie Band I. Erklärung - Begründung - Kausalität. Teleologische Erklärung, Funktionalanalyse und Selbstregulation. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Berlin 1983. 
Uexküll, Thure von: Der Mensch und die Natur. Grundzüge einer Naturphilosophie. München 1953.
Wells, Herbert G. "The Country of the Blind". Verfügbar unter The Country of the Blind

Wright, Larry. "Functions". In: Sober, Conceptual Issues in Evolutionary Biology. S. 347-368. [Nachdruck von Philosophical Review, 82 (1973), 139-168]

Gastbeitrag von: Herbert Huber

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