„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Bas van Fraassen über das Wunderargument

Das Wunderargument besagt, dass der wissenschaftliche Realismus eine gute und die beste Erklärung für den Erfolg der Wissenschaften und deshalb wahr ist.

Das heißt es besteht in einem Schluss vom Explanandum auf das Explanans:

ExplanandumW: Der empirische Erfolg der Wissenschaften.

ExplanansW: Der wissenschaftliche Realismus.

Antirealisten schlagen alternative Explanantia für das ExplanandumW vor.

1. Bas van Fraassen

Der Antirealist Bas van Fraassen schreibt:

“[...] I claim that the success of current scientific theories is no miracle. It is not even surprising to the scientific (Darwinist) mind. For any scientific theory is born into a life of fierce competition, a jungle red in tooth and claw. Only the successful theories survive — the ones which in fact latched on to actual regularities in nature.”

- Bas van Fraassen: The Scientific Image. 1980, S. 40

Bas van Fraassen vergleicht wissenschaftliche Theorien mit den Objekten der Selektion. In der Philosophie der Biologie gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, was genau die Objekte der natürlichen Selektion sind: der einzelne Organismus, eine Gruppe von individuellen Organismen oder einzelne Gene.[1]

Die Objekte der Selektion haben Eigenschaften, die unter dem Begriff "Fitness" zusammengefasst werden. Mit "Fitness" sind die Fähigkeit zu Überleben und sich zu reproduzieren gemeint. Dabei trägt eine Eigenschaft X mehr zur Fitness eines Selektionsobjektes O bei als eine Eigenschaft Y, wenn X im Vergleich zu Y die Wahrscheinlichkeit zu Überleben und zur Fortpflanzung für O stärker erhöht als X.

Die natürliche Selektion besteht dann in einem ausselektieren von Selektions-objekten mit einer geringeren "Fitness" als konkurrierende Selektionsobjekte.

Van Fraassens Behauptung ist, dass wissenschaftliche Theorien in einer vergleichbaren Konkurrenzsituation zueinander stehen. Seine Idee scheint zu sein, dass es einen Mechanismus gibt, den wir als "wissenschaftliche Selektion" bezeichnen können und der wissenschaftliche Theorien mit einem geringeren "empirischen Erfolg" als konkurrierende Theorien im Laufe der Zeit ausselektiert.

Er zieht also eine Analogie zwischen:

  • Der Erklärung von biologischer Angepasstheit durch natürliche Selektion.
  • Der Erklärung von empirischem Erfolg durch wissenschaftliche Selektion.

Er bringt dieses Beispiel für eine Erklärung der ersten Art an:

“[...] the mouse perceives that the cat is its enemy, hence the mouse runs. What is postulated here is the ‘adequacy’ of the mouse's thought to the order of nature: the relation of enmity is correctly reflected in his mind. But the Darwinist says: Do not ask why the mouse runs from its enemy. Species which did not cope with their natural enemies no longer exist. That is why there are only ones who do.

- ebd.

Ein Verweis auf die natürliche Selektion erklärt also, dass die Maus vom Kater wegrennt. Er erklärt aber nicht, welche Eigenschaften es sind, welche eine Maus von einem Kater wegrennen lassen. Diese Eigenschaft könnte beispielsweise eine Mutation im Erbgut der Maus sein. Man könnte hier vielleicht zwischen einer  "phänotypische Erklärung" und einer "genotypischen Erklärung" unterscheiden.

Analog dazu erklärt die "wissenschaftliche Selektion" nur, dass unsere reifsten Theorien empirisch erfolgreich sind. Sie erklärt aber nicht, welche Eigenschaften es sind, die diese Theorien empirisch erfolgreich machen. Der Realist möchte aber primär Zweiteres durch die Eigenschaft der Wahrheit der Theorien erklären. Das Explanans von van Fraassen erklärt also erstens nicht das Explanandum im Wunderargument. Und zweitens, was auch wichtig ist, es steht in keinem Spannungsverhältnis zum Explanans des Realisten, d.h. die Hypothese von der wissenschaftlichen Selektion und die vom wissenschaftlichen Realismus können beide wahr sein. Es ist also in keiner Hinsicht ein Problem für den Realisten.

Diesen Kritikpunkt haben auch schon von Alan Musgrave (1985, 1988), Peter Lipton (1993, 1994), Jarrett Leplin (1997), Stathis Psillos (2001), Anjan Chakravartty (2007) u.v.w. stark gemacht. Der erste, der ihn erkannt hat, war bemerkenswerterweise Bas van Fraassen selbst (1980, S. 40, Fußnote 34).

Sie haben dabei, wie ich argumentieren möchte, eine wichtige Sache übersehen. 

2. ein neues Problem für den Realisten?

Wir müssen zwischen zwei Explananda und zugehörige Explantia unterscheiden:

Explanandum1: Der empirische Erfolg der Wissenschaften.

Explanans1: nennt eine Eigenschaft, welche diesen Erfolg erklärt.

Explanandum2: Die hohe Anzahl an erfolgreichen Theorien unter unseren gegenwärtigen.

Explanans2: nennt einen Mechanismus, der zuverlässig zu Theorien führt, die empirisch erfolgreich sind. Dieser kann selektiv und oder produktiv sein.

Van Fraassen hat ein Explanans2 für das Explanandum2 vorgeschlagen, während lokale Versionen des NMA allein versuchen das Explanandumzu erklären.

Eine lokale Version des NMA (fortan: NMAlok) bezieht sich im Explanandum nur auf einzelne Theorien und ihren empirischen Erfolg. Eine solche Version findet sich bspw. bei Alan Musgrave.[2] Aus lokalen Versionen des NMA lassen sich direkt nur singuläre realistische Aussagen über wissenschaftliche Theorien ableiten. Generelle Aussagen über erfolgreiche Theorien oder ähnliches lassen sich wenn überhaupt dann nur in einem zweiten (induktiven) Schritt gewinnen.

Eine globale Version des NMA (fortan: NMAglo) bezieht sich im Explanandum auf alle oder zumindest auf eine Gesamtheit der reifen Theorien mit einer Erfolgs-eigenschaft E. Das Explanans enthält dann generelle realistische Aussagen.

Welche Version man wählt, kann Konsequenzen für die Attraktivität und Plausibilität des Wunderarguments haben. Für unsere Zwecke ist wichtig, dass globale Versionen das NMAglo im Explanans sehr wohl oft auch Aussagen über Mechanismen treffen, der zuverlässig zu Theorien führt, die empirisch erfolgreich sind. Das globale Wunderargument von Richard Boyd ist hier ein gutes Beispiel.

Die Argumentationsschritte in diesen NMAglo lassen sich etwa so skizzieren:

(1) Der Realist spezifiziert eine Eigenschaft wissenschaftlicher Theorien, nämlich die Wahrheit, von der er glaubt, dass sie zum Erfolg führen wird.

(2) Der Realist versucht zu zeigen, wie wir durch einen evolutionären (selektiven oder adaptiven) Prozess wahre Theorien erlangt haben könnten.

(3) Er erklärt im Explanans1,2  das Explanandumdurch die Wahrheit der Theorien und Explanandumdurch einen wissenschaftlichen Mechanismus.

Hier nun ein Beispiel aus der Biologie, das vielleicht aufschlussreicher ist als das von van Fraassen. Krähen können bemerkenswert gut fliegen. Wir wollen das erklären. Eine selektive Erklärung analog zum Realisten sieht dann so aus:

(1) Der Biologe spezifiziert eine Flügelstruktur X, die bestimmte aerodynamische Eigenschaften hat, durch welche eine Krähe fliegen könnte.

(2) Der Biologe zeigt, wie sich X durch natürliche Selektion bei Krähen entwickelt haben könnte.
(3) Der Biologe erklärt die bemerkenswerten Flugfähigkeiten von Krähen dadurch, dass die Flügel von Krähen die Struktur X haben. Und dass Krähen die Flügelstruktur X haben, erklärt er durch die natürliche Selektion.

Die zweite ist aber keine zufriedenstellende Erklärung. Denn natürliche Selektion ist in einem sehr wichtigem Sinne nicht diskriminierend. Es gibt verschiedene Eigenschaften, die die Flugfähigkeiten von Krähen erklären könnten.

Angenommen eine Krähenpopulation lebt in einem Areal in dem auch Wander-falken leben. Wanderfalken sind Fressfeinde von Krähen. Angenommen, das schafft einen Selektionsdruck bei den Krähen, der Individuen mit einer Flugfähigkeit F begünstigt. F kann durch jede Eigenschaft realisiert werden, die durch zufällige Mutationen im Erbgut der Krähe entsteht. Die Selektion begünstigt also jede Eigenschaft, die F realisiert, und nicht nur die Eigenschaft X. Die Erklärung von F durch X ist also nur dann zufriedenstellend, wenn der Biologe zusätzlich und unabhängig von der Selektionserklärung nachweist oder zumindest gute Gründe dafür anführt, dass Krähen Flügel mit der Struktur X besitzen. Das ist eine Mindestanforderung an eine gute Selektionserklärung.

Hier noch ein BeispielEine Person A hilft einer Person B, welche zuvor Person A geholfen hatte. Im Ergebnis stehen jetzt beide besser da. Diese Fähigkeit F zu rezipork-altruistischem Verhalten bietet also einen Selektionsvorteil. Sie kann sich innerhalb einer Art aber nur dann entwickeln, wenn ihre Mitglieder in der Lage sind, Betrüger zu erkennen. Einige Evolutionäre Psychologen erklären F durch ein mentales "cheater-detection-modul" X.[3] Und X erklären sie durch die natürliche Selektion. Hier haben wir wieder dasselbe Problem. Die natürliche Selektion ist wenig diskriminierend und könnte F auch durch etwas anderes als X realisieren.  In der Evolutionären Psychologie wimmelt es von solchen Selektionserklärungen.

Bemerken Sie, dass einige Realisten das Explanandum1 und das Explanandum2 genauso erklären wie der (fiktive) Biologe die Flugfähigkeit von Krähen und einige evolutionäre Psychologen unsere Fähigkeit zu komplexem sozialen Verhalten:  Sie erklären den empirischen Erfolg jetziger Theorien (die Eigenschaft F) durch die Wahrheit (die Eigenschaft X) dieser Theorien. Und dass so viele jetzige Theorien F sind, erklären sie dadurch, dass die Wissenschaft (etwa durch Experimente) nach F selektiert und X F realisiert. Damit genügt ihre Selektionserklärung nicht den absoluten Mindestanforderungen, die wir in anderen Disziplinen stellen.

Soweit ich weiß, hat noch niemand in der Literatur auf diesen Punkt hingewiesen. Er betrifft die Erklärung des Explanandum2. Während der Realist im NMA, wie gesagt, primär Explanandum1 erklären möchte. Trotzdem denke ich, dass er, in Kombination mit in der Literatur bereits bekannten Kritikpunkten, ein Problem für den Realisten darstellt:

Einzelnachweise

[1] Robert N. Brandon, Richard M. Burian: Genes, Organisms, Populations: Controversies over the Units of Selection. Cambridge: MIT Press. 1984, Teil 2.

[2] Alan Musgrave: The ultimate argument for scientific realism, In: Robert Nola (ed.); Relativism and Realism in Science, Dordrecht, 1988, S. 239 / 240.

[3] Elsa Ermer, Leda Cosmides, John Tooby: Cheater-Detection Mechanism. In: Roy F. Baumeister, Kathleen D. Vohs: Encyclopedia of Social Psychology, Band 1. 2007, S. 138 - 140.

 

vorherige Version dieses Blogeintrages (
Microsoft Word Dokument 27.0 KB

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    tsSLAueP (Mittwoch, 15 November 2023 17:24)

    1

  • #2

    tsSLAueP (Mittwoch, 15 November 2023 17:38)

    1


Impressum | Datenschutz | Cookie-Richtlinie | Sitemap
Diese Website darf gerne zitiert werden, für die Weiterverwendung ganzer Texte bitte ich jedoch um kurze Rücksprache.