„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Jon P. Jarrett über das Bellsche Theorem

Der Singulett-Zustand wird in der Quantenmechanik wie folgt beschrieben:

Ψ = 1 / √2 * (Ψ1+  Ψ2- - Ψ1-  Ψ2+)

Die Indizes "1" und "2" legen mathematisch nahe, dass hier ein Gesamtsystem beschrieben wird, das aus zwei Teilsystemen zusammengesetzt ist. Es könnte sich beispielsweise um ein Gesamtsystem aus zwei verschränkten Protonen handeln.

Die obige Formel kann mathematisch nicht in Produktform gebracht werden. Das bedeutet, dass mathematisch weder dem System 1 noch dem System 2 ein eindeutiger Spinzustand zugeordnet werden kann. Mit anderen Worten: Die Beschreibung des Gesamtzustandes durch die obige Formel legt nicht die jeweiligen Spinzustände der einzelnen Teilsysteme 1 und 2 fest.

Wenn man Spinmessungen an den Teilsystemen durchführt, erhält man jedoch für jedes der Systeme 1 und 2 jeweils eindeutige Messergebnisse. Diese sind zwar zufällig verteilt, es gibt aber gewisse Korrelationen zwischen den Messergebnissen: Wenn man für System 1 den Zustand |a1 misst, liegt nach der Messung am System 2 mit Sicherheit der Zustand |a2 vor und vice versa. Nach der Quantentheorie sind diese Korrelationen unabhängig von der räumlichen Entfernung der Teilsysteme 1 und 2. Insbesondere liegen sie auch dann vor, wenn 1 und 2 raumartig voneinander entfernt sind, d.h. wenn kein Signal zwischen diesen Systemen mit Lichtgeschwindigkeit diese Korrelationen herstellen könnte.

Die Physiker Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen haben in einem Aufsatz von 1935 ein Argument für die Unvollständigkeit der Quantenmechanik entwickelt.[1] Nach ihnen legt im Falle der Messung an einem verschränkten Zustand die Messung an System 1 den entsprechenden Zustand des Systems 2 fest und vice versa. Dies sei aber unmöglich, da die Systeme prinzipiell beliebig weit voneinander entfernt sein können und es nach der Speziellen Relativitätstheorie nur Signlarübertragungen mit höchstens Lichtgeschwindigkeit geben kann. Also müssen die Systeme 1 und 2 schon vor der Messung definite numerische Spinwerte besitzen. Diese werden im mathematischen Formalismus der Quantentheorie aber nicht abgebildet. Daraus schlussfolgerten EPR, dass die Quantentheorie eine unvollständige wissenschaftliche Theorie sei. Insbesondere Albert Einstein hat Zeit seines Lebens versucht, den Formalismus der Quantentheorie durch sog. lokale verborgene Variablen zu vervollständigen.

Die Arbeit des Physikers John Stewart Bell von 1964 kann als eine Replik auf das EPR-Argument verstanden werden. Bell konnte in dieser bahnbrechenden Arbeit zeigen, dass die EPR-Korrelationen nicht durch lokale verborgene Parameter im mathematischen Formalismus der Quantentheorie erklärt werden können.[2] Genauer zeigte er nach der Standardinterpretation des Bellschen Argumentes, dass zwei Prinzipien dieser Art in der Quantenwelt nicht gültig sein können:

Das (kausale) Einstein-Lokalitätsprinzip (ELP): Es gibt keine (kausalen) Prozesse schneller als Licht.

Lokale Faktorisierbarkeit (LF): pλ12 (xa, xb | a, b) = p1λ (xa | a ) • p2 λ (xb | b)

Die formale Definition des Prinzipes (LF) ist offenbar erklärungsbedürftig. In dieser Formel ist "p" die bedingte Wahrscheinlichkeit und "λ" steht für den Zustand des Gesamtsystems, also den Singulett-Zustand in dem oben betrachteten Beispiel. Die Indizes könnten ontologisch so gedeutet werden, dass sie sich auf Teilsysteme beziehen, also auf zwei Systeme mit Spin ½. Zudem repräsentieren xa und xb die Ergebnisse der Messungen an Teilsystem 1 und Teilsystem 2 (xa = ± 1, xb = ± 1); a bezieht sich auf den Parameter, der an Teilsystem 1 gemessen wird und b bezieht sich auf den Parameter, der an Teilsystem 2 gemessen wird. Faktorisierbarkeit bedeutet: Gegeben den Zustand des Gesamtsystems hängt die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teil 1 nur von dem Parameter ab, der an Teil 1 gemessen wird und die Wahrscheinlichkeit für dass Ergebnis einer Messung an Teil 2 hängt nur von dem Parameter ab, der an Teil 2 gemessen wird. Die Wahrscheinlichkeit für beide Ergebnisse, gegeben beide Parameter, ist das Produkt dieser Wahrscheinlichkeit. Faktorisierbarkeit ist also die präzise mathematische Formulierung der Annahme, die Bell in der Einleitung zu seiner Arbeit angibt, nämlich dass:

„Das Ergebnis der Messung an einem System nicht durch Eingriffe an einem entfernten System beeinflusst wird, mit dem das System in der Vergangenheit interagiert hat.“

- John S. Bell: On-The Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox (1964), S. 195.

(eigene Übersetzung)

John P. Jarrett hat in diesem Kontext in einer Arbeit von 1984 eine ebenso berühmte wie meiner Meinung nach irreführende Distinktion eingeführt.[3] Jarrett zeigt auf, dass die Verletzung von dem Prinzip (LP) mathematisch äquivalent ist mit der Disjunktion aus der Annahme einer Korrelation zwischen den beiden Messergebnissen ("outcome dependence") und der Annahme einer Korrelation zwischen der Messeinstelung dem dem Messergebnis auf der anderen Seite ("parameter dependence "). Diese Annahmen können so formalisiert werden:

Ergebnis-Unabhängigkeit:

(1) Pλ1 (xa | a, b) = p1λ (xa | a)
(2) Pλ2 (xb | a, b) = p2λ (xb | b)

Diese Formeln besagen: Im Zustand λ des Gesamtsystems ist die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teilsystem 1 unabhängig von dem Parameter, der an Teilsystem 2 gemessen wird (und umgekehrt).

Parameter-Unabhängigkeit:

(3) Pλ1 (xa | a, b) = p1λ (xa | a, b, xb)
(4) Pλ2 (xb | a, b) = p2λ (xb | a, b, xa)

Diese Formeln besagen: Im Zustand λ des Gesamtsystems und gegeben die Parameter, die an beiden Teilsystemen gemessen werden, ist das Ergebnis einer Messung an Teilsystem 1 unabhängig von dem Ergebnis einer Messung von Teilsystem 2. Wenn das Ergebnis einer Messung an Teilsystem 2 gegeben ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teilsystem 1 nicht unverändert (und umgekehrt).

Jarrett stilisiert diese beiden Alternativen zu einem großen Dilemma. Das heißt aufgrund der experimentellen Verletzung der Bellschen Ungleichung muss eine der beiden Annahmen in der Quantenwelt verletzt sein. Fast alle Autoren folgen ihm in dieser Analyse und fast alle Autoren argumentieren dafür, dass in der Quantenwelt nicht Parameter-Unabhängigkeit und stattdessen Ergebnis-Unabhängigkeit verletzt sein muss. Das heißt wenn der Parameter, der an dem einen Teilsystem gemessen werden soll, gegeben ist, dann verändern sich die Wahrscheinlichkeiten für das Ergebnis einer Messung an dem anderen Teilsystem nicht. Wenn das Ergebnis der Messung an dem einen Teilsystem und der gemessenen Parameter gegeben sind, dann sind die Wahrscheinlichkeiten für das Ergebnis einer Messung an dem anderen Teilsystem verändert. Im betrachteten Fall des Spin sind die Ergebnisse Spin plus und Spin minus nicht mehr gleich wahrscheinlich, sondern das eine Ergebnis ist wahrscheinlicher als das andere.

Es gibt mindestens zwei Gründe, weshalb viele Autoren für eine Verletzung der Ergebnis-Unabhängigkeit und nicht der Parameter-Unabhängigkeit plädieren.

Erstens würde eine Verletzung der Parameter-Unabhängigkeit nach diesen Autoren einen Konflikt mit der Relativitätstheorie ergeben, weil Parameter-Abhängigkeit im Prinzip eine Signalübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit ermögliche. Ergebnis-Abhängigkeit hingegen sei kompatibel mit der Relativitätstheorie. Zweitens spricht die Standard-Interpretation der Quantenmechanik nach diesen Autoren für eine Verletzung der Ergebnis-Unabhängigkeit, weil gemäß dieser die Photonen nur gemeinsam einen reinen Zustand haben, und erst die Messung zum Kollaps des Zustandes führt.[4]

Ich möchte mich hier vor allem auf den zweiten Grund konzentrieren. Erstens ist es schlichtweg nicht wahr, dass man bei Parameter-Unabhängigkeit in jedem Fall überlichtschnelle Signale senden kann. Die EPR-Korrelationen hängen ja von der verborgenen Variable λ ab und wenn man diese nicht kontrollieren kann, kann man auch bei Parameter-Unabhängigkeit prinzipiell keine überlichtschnellen Signale senden. Dies ist sogar bei sehr populären Interpretationen wie der De-Broglie-Bohm-Theorie der Fall. Zweitens argumentieren Martin Jones und Robert Clifton, dass es falsch ist, anhand des Kriteriums möglicher Signalübertragung für Outcome Dependence und gegen Parameter Dependence zu votieren.[5] Denn wenn man die Schwierigkeiten mit der Kontrolle der verborgenen Variable λ beiseite lässt und davon ausgeht, dass Parameter Dependence es erlaubt, Signale zu senden, dann müsste auch Outcome Dependence es ermöglichen, Signale zu senden, wenn zusätzlich eines der Messergebnisse von seiner lokalen Messeinstellung abhängt (was ohnehin sehr plausibel ist). Denn in diesem Fall kann man das an sich unkontrollierbare Messergebnis über die lokale Messeinstellung ein Stück weit kontrollieren und somit Signale senden.[6]

Tim Maudlin[7] kritisiert noch einen viel fundamentaleren Punkt. Nach ihm ist das von Jarrett aufgestellte Dilemma irreführend, da man eine gewisse Abhängigkeit von der entfernten Messeinstellung in keinem Fall vermeiden kann. Eine Abhängigkeit zwischen den Messergebnissen alleine ist zu schwach, um die Verletzung einer Bellschen Ungleichung erklären zu können. Mindestens eines der Messergebnisse muss auch von der entfernten Messeinstellung abhängen. Mit der kausalen Markov-Bedingung als Brückenprinzip übertragen sich diese Ergebnisse auf die kausale Ebene: Wenn es nur eine kausale Verbindung von einem Messergebnis zum anderen gibt, kann man eine Bell-Ungleichung gar nicht verletzen; solche Strukturen implizieren Bell-Ungleichungen, wie es lokale Strukturen tun.[8][9] Was jahrelang als die Standardlösung des Problems galt, eine statistische Abhängigkeit und ein quasi-kausale Verbindung zwischen den Messergebnissen anzunehmen, hat sich also als unhaltbar erwiesen.

Paul Näger[10] zeigt, dass mindestens eines der Messergebnisse Wirkung beider Messeinstellungen sein muss, um eine Bellsche Ungleichung verletzen zu können.

Das heißt es muss mindestens eine der Messeinstellungen auf das entfernte Ergebnis wirken. Dies kann nicht indirekt über das lokale Messergebnis geschehen (wie in Abbildung a), sondern muss entweder direkt (wie in Abbildung b) oder  indirekt über die verborgene Variable λ (wie in Abbildung c) geschehen.

Einzelnachweise

[1] Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen (1935). Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete?. In: Physical Review 47, S. 777 – 780.

[2] John S. Bell: On-The Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox (1964). In: Physics 1, S. 195 – 200.

[3] Jarrett, Jon P. (1984). On the physical signifance of the locality conditions in the Bell arguments. In: Noûs 18, S. 569 – 590.

[4] Jeremy Butterfield (1989). A space-time approach to the Bell inequality. In: J. T. Cushing and E. McMullin (Hg.). Philosophical Consequences of Quantum Theory: Reflections on Bell’s Theorem, S. 114 – 144. Notre Dame: University of Notre Dame Press.

[5] Martin R. Jones und Robert K. Clifton (1993). Against experimental metaphysics. In: P. A. French, T. E. Uehling und H. K. Wettstein (Hrsg.).: Philosophy of Science, S. 295–316. Notre Dame: University of Notre Dame Press.

[6] Clark Glymour (2006). Markov properties and quantum experiments. In: W. Demopoulos und I. Pitowsky (Hrsg.): Physical Theory and Its Interpretation: Essays in Honor of Jeffrey Bub, S. 117 –125. Dordrecht: Springer.

[7] Tim Maudlin (2011). Quantum Non-locality and Relativity: Metaphysical Intimations of Modern Physics. Oxford: Wiley-Blackwell, Kapitel 6.

[8] Näger, Paul M. (2013). A stronger Bell argument for quantum non-locality. Preprint. http://philsci-archive.pitt.edu/9932/

[9] Näger, Paul M. (2013). Causal graphs for EPR experiments. Preprint. http:// philsci-archive.pitt.edu/9915/

[10] ebd.

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