Erklärungslücke

Joseph Levines Argument der Erklärungslücke (engl. explanatory gap) besagt, dass eine vollständige epistemologische Reduktion von mentalen Zuständen mit subjektivem Erlebnisgehalt auf physikalische Zustände scheitern muss.[1]

Levine ist nichtreduktiver Physikalist, d.h. er hält mentale Zustände prinzipiell für physikalische Entitäten, bestreitet aber, dass diese Identität erklärt werden kann. Kein physisches Ereignis könne verständlich machen, warum etwas erlebt wird, es bleibt also immer eine Erklärungslücke bestehen. Diese erkenntnistheoretische These ist von ontologischen Antinaturalisierungs-Thesen wie der von David Chalmers zu unterscheiden, der in der Erklärungslücke das Scheitern des Materialismus zugunsten eines Eigenschaftsdualismus sieht.

„Wir haben exzellente Gründe dafür zu glauben, dass mentale Phänomene […] physikalische und/oder natürliche Phänomene sein müssen. Wir haben andererseits aber auch exzellente Gründe dafür zu glauben, dass bewusstes Erleben sich nichtphysikalisch und/oder naturwissenschaftlich erklären lässt.“
- Joseph Levin: Purple Haze: The Puzzle of Consciousness, p. 28

1. Levines Argumentation

Levine geht vom Vergleich der folgenden beiden Identitätsaussagen aus:

(1) Schmerz ist identisch mit dem Feuern von C-Fasern.

(2) Temperatur ist identisch mit der mittleren kinetischen Energie der   Moleküle eines Gases.

Nur die Aussage (2) ist in seinen Augen vollständig explanatorisch, die Aussage (1) nicht. Dies zeigt sich wie folgt: Auf der einen Seite ist es in einem bestimmten Sinn undenkbar, dass in einem Gas die mittlere kinetische Energie der Moleküle sagen wir 6.21*10^-21 Joule beträgt, dass dieses Gas aber nicht die entsprechende Temperatur 300 K bzw. 26,85° Celsius besitzt. Auf der anderen Seite scheint es aber sehr wohl denkbar, dass ich keine Schmerzen fühle, obwohl meine C-Fasern feuern (Vgl. Zombie).

„Unsere Kenntnis der Physik und Chemie [macht] es verständlich [...]

wie es dazu kommt, dass etwas wie die Bewegung von Molekülen die kausale Rolle spielen kann, die wir mit Temperaturen verbinden.
- Joseph Levin: Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, p. 357

Die Aussage (2) ist deshalb vollständig explanatorisch, weil:

1.    Unser Begriff von Temperatur sich in der kausalen Rolle erschöpft.

2.    Die Physik verständlich machen kann, dass die mittlere kinetische Energie der Moleküle eines Gases genau diese kausale Rolle spielt.

Und Aussage (1) ist nicht vollständig explanatorisch, da die Punkte 1. und 2. nicht - mutatis mutandis - auf sie zutreffen. Wie Levine selbst feststellt, folgt daraus aber nicht, dass (1) falsch ist. Es folgt nur, dass Schmerzen nicht epistemologisch reduziert werden können.

Warum aber ist das so? Mit dem Ausdruck "Schmerzen" assoziieren wir doch ebenfalls eine kausale Rolle. Schmerzen werden durch die Verletzung von Gewebe verursacht, sie führen dazu, dass wir schreien oder wimmern, und sie bewirken in uns den Wunsch, den Schmerz so schnell wie möglich loszuwerden (Vgl. Behaviorismus). Dies bestreitet auch Levine nicht. Er bestreitet nicht einmal, dass das Feuern von C-Fasern den Mechanismus erklärt, auf dem die kausale Rolle von Schmerzen beruht. Aber unser Begriff von Schmerz erschöpft sich nicht in einer kausalen Rolle!

 „Unser Begriff von Schmerzen umfasst (...) mehr als ihre kausale Rolle; es gibt auch den qualitativen Charakter von Schmerzen, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben. Und was durch die Entdeckung der C-Fasern unerklärt bleibt, ist, warum sich Schmerzen so anfühlen sollen, wie sie sich anfühlen! Denn am Feuern von C-Fasern scheint es nichts zu geben, was dafür sorgen würde, dass das Feuern dieser Fasern in natürlicher Weise zu den phänomenalen Eigenschaften von Schmerzen ‘passt’; es könnte genauso gut zu einer anderen Menge von phänomenalen Eigenschaften passen. Anders als bei der funktionalen Rolle bleibt bei der Identifikation des qualitativen Aspekts von Schmerzen mit dem Feuern von C-Fasern (oder mit einer Eigenschaft des Feuerns von C-Fasern) die Beziehung zwischen dem qualitativen Aspekt und dem, womit wir ihn identifizieren, vollständig rätselhaft. Man könnte auch sagen: Diese Identifikation macht die Art und Weise, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben, zu einem factum brutum.“

- Joseph Levin: Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, p. 96

Ein erster Grund dafür, dass die Aussage (1) nicht vollständig explanatorisch ist, d.h. weshalb eine Erklärungslücke besteht, ist also:

P1. Unser Begriff von Schmerzen erschöpft sich nicht in einer kausalen Rolle; er umfasst auch einen qualitativen Aspekt – die Art beispielsweise, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben.

Aber dies allein ist noch nicht entscheidend. Denn (1) könnte trotzdem vollständig explanatorisch sein, wenn die Neurobiologie verständlich machen könnte, dass sich das Feuern von C-Fasern genauso anfühlt, wie dies für Schmerzen charakteristisch ist. Für den nicht-explanatorischen Charakter von (1) ist deshalb ein zweiter Punkt noch wichtiger:

P2. Die Neurobiologie kann nicht verständlich machen, dass sich das Feuern von C-Fasern genauso anfühlt, wie dies für Schmerzen charakteristisch ist.

Levins gesamtes Argument lässt sich also so zusammenfassen:

P1. Zu den charakteristischen Merkmalen phänomenaler Zustände gehört nicht nur eine bestimmte kausale Rolle, sondern auch, dass es sich auf eine jeweils spezifische Weise anfühlt, in diesen Zuständen zu sein.
P2. Für keinen möglichen Gehirnzustand folgt aus den allgemeinen Gesetzen der Neurobiologie, dass es sich auf eine spezifische Weise anfühlt, in diesem Zustand zu sein.
K1. Also: Es gibt eine Erklärungslücke, aus der folgt, dass Aussagen wie (1) nicht vollständig explanatorisch sind.

Wenn man einmal zugesteht, dass zu den charakteristischen Merkmalen phänomenaler Zustände jeweils auch eine spezifische Erlebnisqualität gehört (was die meisten Philosophen annehmen, eine Ausnahme stellt der Philosoph Daniel Dennett dar), liegt der kritische Punkt des Arguments offenbar in Levines zweiter Prämisse. Warum ist sich Levine so sicher, dass für keinen Gehirnzustand aus den allgemeinen Gesetzen der Neurobiologie folgt, dass es sich auf eine spezifische Weise anfühlt, in diesem Zustand zu sein?

Um diese Frage zu beantworten, sehen wir uns zunächst ein Beispiel für eine gelungene reduktive Erklärung an. Die Eigenschaft von Wasser, bei 20° Celsius flüssig zu sein, lässt sich durch die Reduktion auf die Mikrostruktur von Wasser erklären. Denn erstens folgt aus dieser, dass der mittlere Abstand, den H2O-Moleküle bei 20° C zueinander haben, aufgrund der zwischen den Molekülen bestehenden Anziehungskräfte nur mit großem Druck weiter verringert werden kann. Die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen bei 20° C reichen aber auch nicht aus, um sie an ihren relativen Positionen festzuzurren. Bei dieser Temperatur können die Moleküle also frei übereinander rollen. Wenn auf alle Moleküle dieselbe Kraft wirkt, wird sich daher jedes Molekül bis zu dem Ort bewegen, an dem es sozusagen nicht mehr weiter kann.

Damit wurde aber noch nicht gezeigt, dass Wasser bei 20° Celsius flüssig ist. Bisher hatten wir es nur von einzelnen Molekülen. Wir benötigen zusätzlich noch Brückenprinzipien, aus denen hervorgeht, wie das Verhalten der gesamten Flüssigkeit mit dem Verhalten ihrer einzelnen Moleküle zusammenhängt. Diese Prinzipien lauten offenbar:

(B1) Wenn der mittlere Abstand, den die Moleküle eines Stoffes zueinander haben, nur mit großem Druck verringert werden kann, dann lässt sich das Volumen dieses Stoffes nur mit großem Druck verringern.

(B2) Wenn die Moleküle eines Stoffes frei übereinander rollen können, ist die Form dieses Stoffes veränderlich und passt sich der Form des Gefäßes an, in dem er sich befindet.

Ohne Brückenprinzipien kann niemals gezeigt werden, dass aus den allgemeinen Gesetzen, die für die Teile eines Systems gelten, folgt, dass das System als Ganzes bestimmte Merkmale aufweist. Und Brückenprinzipien scheinen so selbstverständlich, dass sie entweder den Status von a priori-Prinzipien oder von sehr allgemeinen Naturgesetzen haben. Damit ergibt sich die folgende Antwort auf die Frage, warum wir uns – nach der gegebenen Erklärung – nicht mehr vorstellen können, dass Wasser bei 20° C nicht flüssig ist: Aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt, dass der mittlere Abstand, den H2O-Moleküle bei 20° C zueinander haben, nur mit großem Druck weiter verringert werden kann und dass die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen bei 20° C nicht ausreichen, um sie an ihren relativen Positionen festzuzurren.

Der spezielle Status der Brückenprinzipien B1 und B2 ist dafür verantwortlich, dass wir uns nicht vorstellen können, dass der mittlere Abstand, den die Moleküle eines Stoffes zueinander haben, nur mit großem Druck verringert werden kann, sich das Volumen dieses Stoffes aber schon bei geringem Druck verringert bzw. dass die Moleküle eines Stoffes zwar frei übereinander rollen können, die Form dieses Stoffes aber unveränderlich ist, so dass sie sich nicht der Form des Gefäßes anpasst, in dem er sich befindet.

Fassen wir also nochmal zusammen: Warum können wir uns nicht vorstellen, dass Wasser bei 20° C nicht flüssig ist? (a1) Die charakteristischen Merkmale der Eigenschaft, flüssig zu sein, bestehen alle darin, dass sich flüssige Stoffe unter bestimmten Bedingungen auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. (b1) Aus den allgemeinen Naturgesetzen folgt, dass zwischen H2OMolekülen bei 20° C bestimmte abstoßende und anziehende Kräfte bestehen. (c1) Es gibt Brückenprinzipien, aus denen sich ergibt, dass ein Stoff, zwischen dessen Molekülen diese Kräfte bestehen, genau das Verhalten zeigt, das für die Eigenschaft, flüssig zu sein, charakteristisch ist.

Und warum können wir uns sehr wohl vorstellen, dass sich das Feuern von C-Fasern nicht auf eine bestimmte schmerztypische Weise anfühlt? Levine argumentiert: (a2) Unser Begriff von Schmerzen erschöpft sich nicht in einer kausalen Rolle, und Schmerzen sind auch nicht allein durch ein bestimmtes Verhalten charakterisiert; vielmehr umfasst unser Begriff von Schmerzen einen qualitativen Aspekt – die Art, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben. Das ist letzten Endes aber nicht entscheidend. Denn Schmerzen könnten immer noch durch das Feuern von C-Fasern erklärt werden, wenn es nur Brückenprinzipien gäbe, aus denen hervorginge, dass sich das Feuern von C-Fasern auf die für Schmerzen charakteristische Weise anfühlt. Entscheidend sind daher die folgenden beiden Punkte: (b2) Aus den Gesetzen der Neurobiologie folgt nur, unter welchen Bedingungen welche Neuronen mit welcher Geschwindigkeit feuern. (c2) Noch wichtiger: Es gibt keinerlei Brückenprinzipien, die das Feuern von Neuronen mit bestimmten Erlebnisqualitäten verbinden.

Daraus folgt nicht,  dass (1) kein wahres Naturgesetz (ontologisch), sondern nur, dass sie nicht vollständig explanatorisch ist (epistemologisch).

2. Rezeption

Levines Argumentation hat einen starken Einfluss auf die Philosophie des Geistes gehabt, sein Aufsatz gilt als ein moderner Klassiker auf diesem Gebiet. Auch viele monistisch bzw. physikalistisch eingestellte Philosophen akzeptieren das Problem der Erklärungslücke. Allerdings ist Levines Argumentation auch kritisiert worden. So hat etwa David Papineau die These der Erklärungslücke in dem viel beachteten Aufsatz Mind the gap zurückgewiesen.[3]

Ich stimme Levine in seiner Analyse vollumfänglich zu. Die Indizien dafür, dass qualitative Zustände nicht durch physikalische erklärt werden können, sind erdrückend. Daraus folgt aber nicht, dass qualitative Zustände nicht-physikalisch sind. Es gibt nämlich noch eine Art von Erklärungslücke, nämlich den  Argumentationsfehler der Erklärungslücke: Dieser besagt, dass nur wenn etwas (noch) nicht natürlich erklärt werden kann, es deshalb nicht übernatürlich sein muss. Es kann auch einfach sein, dass unser sich in Anpassung an die individuelle Fitness entwickeltes Primatengehirn nie dazu in der Lage sein wird, die natürlichen Grundlagen von subjektiven Erlebnisgehalten zu erklären.

3. Einzelnachweise

[1] Joseph Levine: Materialism and Qualia: The Explanatory Gap. Pacific Philosophical Quarterly, vol. 64, no. 4, October, 1983, S. 354–361.

[2] David Chalmers: The conscious Mind. Oxford University Press, Oxford 1997.

[3] David Papineau: Mind the Gap. In: Philosophical Perspectives, 1998.

4. Hauptliteratur

Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 2008.

5. Siehe auch

Stand: 2018

Kommentare: 1
  • #1

    WissensWert (Freitag, 09 Februar 2018 03:45)

    http://hss.ulb.uni-bonn.de/2008/1385/1385.pdf


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