„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Rudolf Taschner

Rudolf Taschner ist Mathematiker, Professor für Mathematik an der Technischen Universität Wien und Autor sachlicher und populärwissenschaftlicher Literatur. Zu den von ihm verfassten Werken zählen u.a. „Der Zahlen gigantische Schatten“, „Rechnen mit Gott und der Welt“ und „Die Zahl, die aus der Kälte kam“.

 

Heinle: Herr Taschner, Sie haben die Mathematik zusammen mit der Physik studiert und beschäftigen sich seitdem intensiv mit ihr. Wie würden Sie nach dieser jahrelangen Erfahrung einem Außerirdischen, der noch nie etwas von Mathematik gehört hat, das Wesen der Mathematik erklären?

Taschner: Wenn das außerirdische Wesen mich versteht – davon muss ich ausgehen, wenn ich ihm etwas erklären soll –, dann kennt dieses Wesen auch die Zahlen 1, 2, 3, … . Mathematik ist jene Wissenschaft, die sich mit diesen Zahlen als „Sprossen“ einer „Leiter“ auf dem Weg hinauf zum Unendlichen macht. Mathematik ist, nach einem Wort von Hermann Weyl, „die Wissenschaft vom Unendlichen“.

Heinle: Die Mathematisierung der universitären Disziplinen nimmt seit Jahren zu. Die Chemie ist hochmathematisch und die Physik sowieso. Selbst die Psychologie ist heute voll von Statistik und dieser Trend greift auch in den anderen anthropologischen Wissenschaften um sich: Jüngst liest man da beispielsweise von einer Sozialmathematik. Da stellt sich natürlich die Frage: „Ist alles wissenschaftliche Arbeiten idealerweise angewandte Mathematik, manchmal mit ein wenig empirischer Vorarbeit?

Taschner: Die Menschen glauben zunehmend Galilei, der die Devise ausgab: Messen, was messbar ist, und messbar machen, was es noch nicht ist. Dieser Glaube ist sehr hilfreich und führt zu interessanten und nützlichen Ergebnissen – aber er ist zugleich gefährlich. Jeanne Hersch sagte einmal: „Comme s’il suffisait de pouvoir mesurer pour comprendre …“ („Als ob es genüge, messen zu können, um zu verstehen …“)

Heinle: Grundlage aller Wirtschaftswissenschaften ist der Homo Oeconomicus, also die Vorstellung eines rational handelnden Menschen als wirtschaftlichen Akteur. Mit der Finanzkrise ab 2007, die kaum einer vorhergesehen hatte, bezweifeln viele Menschen diese Annahme. Es seien irrationale Faktoren wie Misstrauen gewesen, die diese Krise verursacht hätten. Fragt man Leute auf der Straße, wägen die wenigsten alle Vor- und Nachteile vor dem Kauf einer Cola ab. Der Mensch scheint also tatsächlich ein höchst irrationales Moment zu haben und niemand konnte dieses in Formeln pressen und vorherbestimmen. Stößt die Mathematik an ihre Grenzen, wenn es um solche Dinge wie Gefühl und Intuition geht?

Taschner: Nicht ganz: Spieltheoretisch kann man sich auch mit Akteuren im wirtschaftlichen Geschehen beschäftigen, die anders agieren als der Homo Oeconomicus. Mein Kollege und Freund Karl Sigmund und sein bester ehemaliger Student, der nun in Harvard lehrende Martin Andreas Nowak haben sich damit eingehend auseinandergesetzt. Doch natürlich findet die Mathematik im Denken und Agieren des Menschen eine unüberwindbare Grenze – Gott sei Dank!

Heinle: Durch meine gelegentliche Lektüre diverser Wochenzeitungen und einiger Bücher weiß ich, dass die Mathematik zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine Grundlagenkrise durchgemacht hat. Können Sie, was die mathematische Fachwelt damals so erschüttert hat, so erklären, dass es auch wir Nichtmathematiker verstehen? Oder ist die Materie zu komplex, als dass man sie ohne Vorkenntnisse verstehen könnte?

Taschner: Die Grundlagenkrise der Mathematik betrifft, wie das Wort sagt, die Grundlagen dieser Wissenschaft, also das Unendliche. Kurz gesagt besteht diese Krise darin, dass man sich uneinig darüber ist, was das Wort „es gibt“ im Zusammenhang mit dem Unendlichen bedeutet. Euklid bewies: „Es gibt“ unendlich viele Primzahlen. Wie soll man das verstehen? Die einen meinen, dass man sich einen Sack (sie nennen es eine „Menge“) vorstellen kann, worin sich alle unendlich vielen Primzahlen tummeln. Die anderen – und ich zähle mich zu diesen wenigen – meinen, dass dieser Satz bloß besagt, dass ich gedanklich zu jeder Primzahl, wie groß sie auch sei, eine noch größere zu finden vermag.

Heinle: Eine landläufige Auffassung von der Mathematik ist es ja, dass man  mal eine Reihe von Axiomen festgelegt hat, sich darauf aufbauend Rechnungen aufstellen lassen, die dann entweder richtig oder falsch sind. Wäre es das, dürfte es unter Mathematikern nur wenige Differenzen geben. In Wirklichkeit gibt es aber einige heiß diskutierte Schulen innerhalb der Mathematik. Wie kann das sein, bei augenscheinlich so wenig Interpretationsspielraum?

Taschner: Sobald man sich auf das Axiomensystem geeinigt hat, ist der von ihnen angesprochene Interpretationsspielraum dahin. Aber welche Axiome sind die wirklich grundlegenden? Die einen meinen, jedes Axiomensystem sei erlaubt, wenn es vollständig ist (d.h. wenn die vernünftig gestellten Probleme prinzipiell lösbar sind) und wenn es widerspruchsfrei ist (d.h. wenn man nicht aus ihm eine falsche Formel wie 0=1 herleiten kann). Andere wieder meinen, dass die Grundlage der Mathematik nicht auf willkürlich vorgesetzten Axiomen, sondern auf „Intuition“ beruhen müsse.

Heinle: In einem Artikel hat Stephen Hawking einmal versucht zu definieren, was eine Zahl ist. Die Definition wollte mir nicht gefallen und als ich mich selbst an einer versucht habe viel mir auf, wie schwer das eigentlich ist. Entweder die Zahlen sind das Resultat unseres Denkens. Dann ist aber sehr mysteriös, dass die Mathematisierung der empirischen Wissenschaften so erfolgreich ist. Wie wäre die Übereinstimmung von mathematischen Gleichungen mit real-physikalischen Vorgängen zu erklären, wenn Zahlen doch nichts weiter als willkürliche mentale Konstrukte sind? Oder eine Zahl ist mehr als eine menschliche Abstraktion und hat irgendeine reale Entsprechung. Aber welche? In welchem Bezug zur Wirklichkeit stehen Zahlen?

Taschner: Zahlen sind auf der einen Seite das – soweit ich sehe – Einzige, das wir wirklich in vollem Umfang verstehen können. Wenn jemand behauptet, er verstünde einen Sachverhalt, meint er damit, dieser Sachverhalt sei für ihn genauso einleuchtend wie die Tatsache, dass sechs mal sieben 42 ergibt. Auf der anderen Seite sind Zahlen Gebilde unseres Denkens. Nirgendwo in der Natur findet man Zahlen, nicht unter dem Teppich, nicht im Wald, nicht auf der Heide. Man sieht zwar die Wandelsterne am Himmel, aber dass es davon sieben mit freiem Auge sichtbare gibt, ist nicht im Himmel, sondern in unserem Denken verborgen. Somit sind Zahlen das Urbild aller Symbole. Und das Denken der anwendungsorientierten Mathematiker besteht darin, diese symbolische Welt als Modell für Aspekte der Wirklichkeit zu fassen.

Heinle: Wer war oder ist in Ihren Augen der größte Mathematiker aller Zeiten?

Taschner: Aus meiner Sicht zweifellos Archimedes.

Heinle: Was sind die verbleibenden Rätsel der Mathematik?

Werden die Mathematiker jemals an einem Punkt ankommen, an dem sie sagen: „So, jetzt wissen wir alles, was wir wissen können.

Das Kapitel Mathematik ist abgeschlossen.“

Taschner: Das Clay-Institute (vgl. http://www.claymath.org/) hat derzeit die brennendsten Probleme der Mathematik benannt; wer eines von ihnen löst, erhält das Preisgeld von einer Million Dollar.
Für die Mathematik ist es nicht so wichtig, alles zu wissen, was man wissen „kann“ – ein solcher Zustand wird nie erreicht werden, und er ist auch nicht erstrebenswert, denn vieles, was man wissen kann, ist völlig belanglos. Für die Mathematik ist es vielmehr wichtig, sich mit den interessanten Fragen auseinanderzusetzen. Soweit wir es bislang überblicken, gibt es deren noch sehr viele.

Heinle: Sollte man den Kindern an unseren Schulen einen anderen Zugang zur Mathematik geben? Wohlmöglich auch, um sie mehr für ein späteres Studium zu begeistern? Wenn ja, welchen?

Taschner: Meine Frau und ich haben in Wien eines Institution „math.space“ im Wiener Museumsquartier aufgebaut, wo Mathematik nicht nur erwachsenen Laien, sondern auch vielen Kindern mithilfe von Erzählungen nahegebracht wird. Wenn man sich in die Lebenswelt der mathematischen Koryphäen hineindenken kann, versteht man auch deren Bestreben, sich mit mathematischen Problemen zu beschäftigen und wird so für diese Wissenschaft begeistert.

Heinle: Welches Buch lesen Sie gerade?

Taschner: Vor kurzem Gedichte aus einem eben erschienenen Band meines ehemaligen Schulkollegen, des unter anderem mit dem Traklpreis ausgezeichneten lyrischen Poeten Hans Raimund.

Heinle: Welche Interessen hegen Sie noch?

Welche Kulturen, welche Musik oder welche Filme sagen Ihnen zu?

Taschner: Ich weiß nicht ganz, was Sie unter „Kulturen“ verstehen: jedenfalls liebe ich die Wiener Kaffeehauskultur und alles, was damit zusammenhängt – eine Fülle von intellektuellen und künstlerischen Eruptionen in der Zeit zwischen 1870 und 1930. In der Musik bin ich der Wiener Klassik verhaftet (wiewohl natürlich Bach von mit hoch verehrt wird); bei den Filmen kenne ich mich nicht so gut aus. Vor kurzem sah ich die schönen Verfilmungen der von mir hoch geschätzten John le Carré-Romane „Tinker, Tailor“ und „A Most Wanted Man“.

Heinle: Wenn Sie nicht Mathematiker geworden wären,

dann wären Sie nun?

Taschner: Ich habe keine Ahnung – Sie können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.

Heinle: Stellen wir uns vor, Sie wären der Bundeskanzler Österreichs:

Was wäre Ihre erste Amtshandlung?

Taschner: Zurücktreten, weil ich dafür ungeeignet bin.

Heinle: Ich danke Ihnen für das doch recht lang gewordene Interview und wünsche Ihnen viel Glück. Sowohl beruflich, als auch privat.

Taschner: Ich danke Ihnen, dass Sie mir so geduldig folgten, und wünsche auch Ihnen alles Gute.

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Kommentare: 1
  • #1

    WissensWert (Donnerstag, 19 April 2018 01:29)

    http://kwakuananse.de/http:/kwakuananse.de/archives/eins-zwei-drei-daran-fhrt-kein-weg-vorbei/


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