Normalerweise benutze ich ja den Namen des Autors und seines Buches als Überschrift, wenn ich einige Gedanken und Zitate aus dem Werk wiedergebe, aber in diesem Fall habe ich nur die ersten 200 und die letzten 50 Seiten gelesen, sodass mir das nicht angemessen erscheint. Carl Friedrich von Weizsäckers Buch „Aufbau der Physik“ ist sehr sperrig, was sowohl den Inhalt als auch die Sprache betrifft. Ich habe mir beim Lesen schwer getan. Man merkt dem Text sein Alter an und dass das Buch mehr Vorlesungsscripte und nicht zusammenhängende Texte enthält, eine sorgfältige Überarbeitung hätte ihm gut getan. Das Buch war mir in einem Kommentar empfohlen worden, weil ich in meinem Text geschrieben hatte, dass ich der Meinung bin, Paradoxa häufig dann anzutreffen, wenn logische Schlüsse auf zeitliche Vorgänge angewendet werden. In diesem Punkt hat Weizsäckers Buch mich bestätigt, im Folgenden einige Gedanken daraus.
In der klassischen Physik, z.B. der Mechanik, gibt es eine Reihe von mathematisch formulierten Gesetzmäßigkeiten, die zeitinvariant sind. Der Parameter „Zeit“ kann dort positive oder negative Werte annehmen, ohne dass sich an der Gültigkeit der berechneten Ergebnisse etwas ändert. Trotzdem gibt uns unser Verstand im Alltag eine definierte Zeitrichtung vor. Weizsäcker verwendet als ein Beispiel die Fotografie eines Dachziegels, der vor einer Hauswand schwebt. Die Aufnahme hat diesen Moment eingefroren. Jedem Betrachter ist klar, dass der Ziegel dort nicht ruhen kann. Die Naturgesetze erlauben es, dass sich der Dachziegel von unten nach oben oder von oben nach unten bewegt. Aber alle Betrachter des Bildes werden instinktiv davon ausgehen, dass der Ziegel fallen wird.
In einem der ersten Kapitel leitet Weizsäcker aus den reversiblen Bewegungsgesetzen von Objekten die irreversiblen Gesetze der Thermodynamik her. Zwar bewegt sich jedes Molekül nach den newtonschen Gesetzen, trotzdem führt das Zusammentreffen einer heißen und einer kalten Menge praktisch immer dazu, dass sich eine mittlere Temperatur einstellt. Physikalisch werden solche Vorgänge mit der Entropie beschrieben, die im zeitlichen Verlauf immer zunimmt und damit eine eindeutige Zeitrichtung vorgibt. Nur kurz war ich über einen Abschnitt im Wikipediaartikel über den Zeitpfeil verblüfft:
Der thermodynamische Zeitpfeil beruht auf dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik: Die Zukunft ist die Zeitrichtung, in der die Entropie zunimmt. Ein interessanter Punkt ist, dass dieser Zeitpfeil im thermodynamischen Gleichgewicht nicht existiert: Für einen Gleichgewichtszustand gibt es keine thermodynamisch definierte Vergangenheit und Zukunft; der Gleichgewichtszustand ist sozusagen zeitlos.
Hier gibt es einen interessanten Denkfehler, den man recht häufig hat: Zur Beschreibung wird das System vereinfacht, dadurch entfallen Eigenschaften, die zu den Seltsamkeiten (den Paradoxa!) führen. Im vorliegenden Fall wurde „vergessen“, dass man den Gleichgewichtszustand nur feststellen kann, indem man ihn misst. Zur Messung ist aber ein größeres System notwendig. Die Messung selbst ist eine Veränderung, wodurch sich eine Entropiezunahme ergibt und damit eine eindeutige Zeitrichtung für das Gesamtsystem.
Eine der zentralen Thesen Weizsäckers ist, dass der fundamentale Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft darin besteht, dass die Vergangenheit feststeht, in seiner Sprache ist sie faktisch, während es für die Zukunft noch Freiheitsgrade gibt, sie ist möglich. Für jedes denkbare Ereignis in der Zukunft kann man die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der es eintritt, also zu einem Fakt wird. Seine Kapitel über die Quantentheorie habe ich zwar nicht gelesen, aber ich vermute, dass er diesen Ansatz auch dort verfolgt. Vor dem Eintreten eines Ereignisses gibt es in Gestalt der Schrödingerschen Wellenfunktion eine Aussage über die Möglichkeiten der Realisierung, nach der Messung wird genau eine davon realisiert und wird faktisch.
Die Spezielle Relativitätstheorie gilt als der krönende Abschluss der klassischen Physik. Ein dort gebrauchtes bildliches Mittel ist, die Zeit als vierte Dimension zusätzlich zu den drei Raumdimensionen zu betrachten. Häufig wird zur grafischen Veranschaulichung mit sogenannten Minkowski-Diagrammen gearbeitet, zweidimensionalen Abbildungen mit einer Orts- und einer Zeitachse. Weizsäckers Buch und diese Modellvorstellung haben mich dazu gebracht, das folgende Paradoxon in einem Gedankenexperiment zu untersuchen:
Eine
Lehrerin kündigt ihrer Klasse an, dass in der folgenden Woche eine Klassenarbeit kommen wird. Sie sagt den Schülern, dass die Arbeit überraschend an einem beliebigen Tag der Woche geschrieben
werden wird.
Die Schüler überlegen sich, dass die Arbeit wohl kaum am
Freitag stattfinden kann. Denn dann wüssten sie ja am Freitagmorgen definitiv Bescheid, dass sie an diesem Tag stattfindet und es wäre keine Überraschung mehr. Genau mit der gleichen Logik können
sie aber dann den Donnerstag ausschließen, denn wenn die Arbeit am Freitag nicht unerwartet stattfinden kann, wäre der Donnerstag der letzte mögliche Tag usw. Sie kommen deshalb zu dem Schluss,
dass in der folgenden Woche überhaupt keine Arbeit geschrieben werden kann.
Ich hatte hier ja bereits geschrieben, wie ich mir die Lösung des Paradoxons vorstelle. Verblüffender Weise habe ich dort mit „faktisch“ und „möglich“ dieselben Wörter wie Weizsäcker verwendet:
Bei ihren Überlegungen springen die Schüler in der Zeit vor und zurück, so als ob die Zeit ein beliebiger Parameter wäre. Tatsächlich gibt es aber immer nur einen konkreten Zeitpunkt. Alles was in der Vergangenheit liegt, gehört zum Faktischen, alles was noch nicht geschehen und in der Zukunft liegt, zum Möglichen. Wenn man von Donnerstag und Freitag feststellt, dass dort keine Arbeit stattfinden kann und dann zum Mittwoch zurückspringt, macht man etwas in der Zukunft Liegendes, also Mögliches, zum Faktischen.
Mein Gedankenexperiment besteht jetzt darin, das Raum-Zeitdiagramm um 90° zu drehen. Im originalen Paradoxon findet die Klassenarbeit am selben Ort möglicherweise zu unterschiedlichen Zeiten statt. Nach der Drehung möglicherweise an verschiedenen Orten zur selben Zeit. Das beseitigt das Paradoxon, denn für jeden Raum ist jetzt die Wahrscheinlichkeit des Schreibens (gleich!) klein, das Ereignis also „überraschend“. Das zeigt, dass die Gleichsetzung der Zeit mit einer Raumachse einen wesentlichen Unterschied zwischen Raum und Zeit vernachlässigt. Im Raum kann man sich frei vor und zurück bewegen, in der Zeit offenbar nicht.
Viele Paradoxa scheinen aus der Doppeldeutigkeit von WENN-DANN-Aussagen herzurühren. Man kann WENN – DANN in einem logischen Sinn verwenden, wenn etwas so ist, dann folgt daraus, und man kann WENN – DANN in einem zeitlichen Sinn verwenden, wenn etwas passiert ist, dann ist das Ursache von etwas anderem, welches später ist.
Die klassische Logik ist zeitlos und enau das scheint eine wesentliche Ursache vieler Probleme zu sein. „Alle Schwäne sind weiß“ ist eine Allaussage und nicht beweisbar. Solange kein nicht weißer Schwan beobachtet wurde, ist der Wahrheitsgehalt unbestimmt. Aber die Einbeziehung der Zeit beseitigt die Schwierigkeiten: „Alle Schwäne, die ich bisher gesehen habe, sind weiß.“ Diese Aussage ist entweder wahr oder falsch. Der Wahrheitsgehalt kann unbekannt sein, aber er ist nicht unbestimmt.
Der Satz „Alle Kreter sind Lügner“, gilt als ein Paradoxon, wenn ihn ein Kreter ausspricht. Aber wenn er formuliert, „Alle Kreter, denen ich bisher begegnet bin, sind Lügner“, ist das wieder eine Aussage mit einem definierten, wenn auch vielleicht unbekanntem Wahrheitsgehalt. Das gilt selbst wenn er formuliert: „Alle Kreter, denen ich in meinem Leben begegnen werde, sind Lügner.“ Denn dann kann man einen Zeitpunkt, den seines Todes, angeben, an dem der Wahrheitsgehalt bestimmt ist, nichts ist paradox.
Es gibt in der Physik zwei entgegengesetzte Ansichten. Die erste hält die Zeit für eine Illusion, die durch eine genauere physikalische Analyse aus den Theorien eliminiert werden kann. Die
entgegengesetzte ist, dass die Zeit die einzige elementare Größe ist (im Gegensatz zu Materie und Raum), die sogar über unser heutiges Universum hinausreicht. Inzwischen tendiere ich zu dieser
zweiten Ansicht. Meiner Meinung nach ist das die einzige konsistente Möglichkeit,
Veränderungen zu beschreiben.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann