„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Das Philosophiebuch: Bertrand Russell

Auch bei Bertrand Russell hat mir das Philosophie-Buch eine bislang unbekannte Seite gezeigt. Er war offenbar nicht nur ein brillanter Mathematiker, Logiker und Philosoph, sondern hat sich auch mit ökonomischen Fragen beschäftigt. Den Essay „Lob des Müßiggangs“ hat er laut dem Artikel 1932 geschrieben, in Buchform ist er aber zusammen mit anderen Texten offenbar erst 1957 veröffentlicht worden.

Russell unterscheidet in seinen Ausführungen zwei Arten von Arbeit. Erstens bezweckt Arbeit »die Veränderung der Lage von Materie auf oder nahe der Erdoberfläche im Verhältnis zu anderer Materie«. Das ist der grundlegendste Sinn von Arbeit – der Handarbeit. Der zweite Typus von Arbeit ist, »anderen Menschen zu sagen, sie sollten die Lage von Materie im Verhältnis zu anderer Materie verändern«. Dieser zweite Typus von Arbeit lässt sich unendlich ausdehnen – man kann nicht nur Angestellte haben, die diesen Leuten, die Materie bewegen, Anweisungen geben, man kann weitere Angestellte einstellen, die diese Leute, die Anweisungen geben, kontrollieren und so weiter. Der erste Typus von Arbeit ist häufig unangenehm und schlecht bezahlt, der zweite in der Regel weniger unangenehm und besser bezahlt.

Diesen beiden Arten der Arbeit entsprechen zwei Arten von Arbeitern: jene, die »arbeiten«, und deren Vorgesetzten. Diesen Arten wiederum entsprechen laut Russell zwei Klassen: die Arbeiterklasse und die Mittelschicht. Und noch eine dritte Klasse macht er aus: die der Grundbesitzer, die nichts zu tun haben und von der Arbeit anderer abhängig sind.

Das ist ein anderer Ansatz als der von Marx, dessen Arbeit Russell kannte, aber dem organisierten Marxismus skeptisch gegenüberstand. Marx nahm die Unterteilung in Klassen anhand des Besitzes von Produktionsmitteln vor. Aus dem Artikel über Russell geht nicht genau hervor, wo er „geistige Arbeit“ einordnet, also ob dort „Materie bewegt“ wird oder eher „anderen Leuten gesagt wird, wie sie Materie zu bewegen haben“. Ich halte weder die Marxsche noch die Russellsche Klassifikation heute noch für zweckmäßig, besser trifft es meiner Meinung nach die Unterteilung in Unter-, Mittel- und Oberschicht entsprechend der Höhe des Einkommens und des Vermögens. Meistens korrelieren diese beide Größen recht gut mit der Art der Tätigkeit der Betreffenden. Und meistens auch recht gut mit den Möglichkeiten der Lebensgestaltung und des Ausübens von Macht.

Die Kritik, die sich aus allen drei Ansätzen am bestehenden System ergibt, ist aber gleich:

Die Geschichte, sagt Russell, ist voller Beispiele von Menschen, die ihr ganzes Leben lang hart arbeiten und vom Ertrag dieser Arbeit gerade so viel für sich und ihre Familien behalten dürfen, dass sie überleben. Den ganzen Überschuss, den sie erwirtschaften, eignen sich währenddessen Krieger, Priester und die nicht arbeitenden, herrschenden Klassen an.

Und stets seien es die Nutznießer des Systems, von denen Lobeshymnen auf die »ehrliche Arbeit« zu hören seien. Sie verliehen einem System moralischen Glanz, das offenkundig ungerecht sei. Allein diese Tatsache sei Grund genug, unsere Arbeitsethik zu überdenken, denn wer von »ehrlicher Arbeit« rede, mache sich schließlich zum Komplizen von Unrecht und Unterdrückung.

Und weiter:

Eine weitere für Russell wichtige Quelle waren Max Webers Untersuchungen zur protestantischen Ethik, die unserer Einstellung zur Arbeit zugrunde liegt. Zum Beispiel betrachten wir die Arbeit nicht nur als eine Pflicht, sondern bewerten ihre verschiedenen Formen auch unterschiedlich. Handarbeit gilt in der Regel als weniger wertvoll als höher qualifizierte oder geistige Arbeit. Nach diesem Wertmaßstab – und nicht nach dem hergestellten Produkt – richtet sich auch das Entlohnungssystem. Und da wir der Arbeit an sich einen Wert zuschreiben, erscheint Arbeitslosigkeit leicht als moralischer Mangel.

Unsere Einstellung zur Arbeit, sagt Russell, ist komplex und unklar. Wir sollten Arbeit nicht nach solchen überholten moralischen Kriterien beurteilen, sondern nach dem, was sie zu einem erfüllten Leben beiträgt. Wenn wir das tun, komme man schwerlich um die Schlussfolgerung herum, dass wir alle weniger arbeiten sollten. In den herrschenden Verhältnissen sei ein Teil der Bevölkerung überarbeitet und deshalb unglücklich, ein anderer Teil ohne jede Arbeit und ebenfalls unglücklich.

Die Kritik am Protestantismus, dem wir diese moralische Überhöhung der Arbeit verdanken, habe ich bereits an anderer Stelle gelesen. Und dass auf jeden „Faulen“ moralischer Druck und über die Sozialsysteme auch realer Zwang ausgeübt wird, ist nach wie vor so.

Wenn die Arbeitsproduktivität jedes Jahr etwa um zwei Prozent steigt, dann sinkt der Aufwand, um dieselben Produkte wie im Vorjahr herzustellen, um genau diese zwei Prozent. Ständiges Wirtschaftswachstum wird zu einem der wichtigsten politischen Ziele, wenn die Teilnahme aller an der Arbeit gefordert wird. Da sind wir dann wieder bei Marx: Die Vermehrung des Kapitals ist Selbstzweck im Kapitalismus. Aber die am schwersten und unter den schlechtesten Bedingungen zum Arbeiten Gezwungenen profitieren am wenigsten davon. Eine der letzten Aussagen in dem Artikel:

Wir nehmen die Länge der Arbeitswoche und die Tatsache, dass bestimmte Arbeiten besser bezahlt werden als andere, als »naturgegeben« hin. Für viele Menschen ist weder ihre Arbeit noch ihre Freizeit so erfüllend, wie sie ihrer Meinung nach sein könnten, und zur gleichen Zeit haben wir das Gefühl, dass Müßiggang ein Laster ist.

Russell schlug eine tägliche Arbeitszeit von vier Stunden vor. Es ist eine ganz einfache Überschlagsrechnung: Wenn wir eine jährliche Produktivitätsteigerung von zwei Prozent annehmen und uns mit unserem heutigen Lebensstandard bescheiden, dann reichen in 35 Jahren vier Stunden am Tag für dieselbe Leistung, für die heute noch acht benötigt werden. Oder, wenn wir uns mit dem Niveau von 1932 begnügen würden, als Russells Artikel erschien und man wahrscheinlich noch zehn Stunden am Tage gearbeitet hat – das schaffen wir heute in weniger als zwei Stunden, in 35 Jahren in einer.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann

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