„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Die Anatomie der Intelligenz

Mehr Gehirn bedeutet nicht gleich mehr Grips. Eine gute Verknüpfung und Kommunikation zwischen bestimmten Gehirnwindungen aber schon. Das anatomische Netzwerk der Intelligenz verknüpft Zentren in verschiedenen Hirnlappen.

Wo im Gehirn versteckt sich die Intelligenz? Erste Indizien liefert die Hirnreifung im Zeitraffer. 1958 beschrieb der schweizerische Psychologe Jean Piaget (1896-1980), wie sich die Intelligenz in vier Stufen entfaltet: Alles beginnt mit der sensomotorischen Intelligenz im Baby- und Kleinkindalter, die vor allem der Meisterung von Bewegungsabläufen dient. Auf den nächsten Stufen entwickeln die kleinen Erdenbürger zunehmend Sinnes- und Sprachkompetenzen, die Fähigkeit zu komplexeren Denkprozessen und sind endlich im 10. bis 12. Lebensjahr allmählich zu abstrakten Denkleistungen in der Lage.

 

Knapp ein Jahrzehnt später verknüpfte der amerikanische Biophysiker und Hirnforscher Herman T. Epstein (1920-2007) diese Phasen mit Wachstumsschüben im Gehirn, die jeweils eine neue Entwicklungsphase einleiten. So reifen im Alter von drei bis zehn Monaten Motorikzentren, sensorische Zentren folgen im Vorschulalter. Und zwei weitere Wachstumsschübe um das sechste und und zehnte Lebensjahr herum schaffen zunehmend komplexere und intensivere Verbindungen zwischen Gehirnregionen mit unterschiedlichen kognitiven Kompetenzen.

 

Bei der Suche nach dem Sitz der Intelligenz im ausgereiften Gehirn gilt es zunächst, einige Sackgassen der Forschung auszuleuchten. Die erste besticht durch ihre Schlichtheit: Kann man mehr Intelligenz nicht einfach mit mehr Gehirn erklären? Darwins Cousin und Zeitgenosse Sir Francis Galton (1822-1911) war einer der ersten, der den Suchscheinwerfer auf die Gehirngröße richtete. Er verglich die Schädeldimensionen von über 1000 Studenten mit deren Prüfungsergebnissen. Und siehe da: die Schädel – und somit, so folgerte er, auch die Gehirne – der Studenten mit den besten Noten waren um zwei bis fünf Prozent größer. Später versuchte Galton gar zu beweisen, dass sich anhand von Schädelgrößen Intelligenzunterschiede zwischen verschiedenen Rassen aufzeigen lassen.

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

 

·       Die Suche nach dem anatomischen Sitz der Intelligenz im Gehirn hat zu vielen verschiedenen Ideen inspiriert. Das Gehirn in seiner Gänze stand genauso unter „Verdacht“ wie der im Laufe der menschlichen Evolution angeblich besonders stark angeschwollene Frontallappen. Zudem nahm man strukturelle Merkmale unter die Lupe, die die Kommunikation zwischen verschiedenen Gehirnregionen verbessern könnten.

·       Die bislang beste Antwort geht inzwischen davon aus, dass all dies ein bisschen stimmt. Bestimmte Gehirnregionen, die vor allem im Frontal- und Parietallappen liegen, aber auch im Temporal- und Okzipitallappen, bilden ein dezentrales Netzwerk der Intelligenz. Besser entwickelte und stärker verknüpfte Strukturen in diesen Bereichen bedeuten in der Regel auch einen höheren IQ.

·       Wie das funktioniert, erklärt ein Modell, das wie ein Fitnessprogramm klingt: P-FIT, die Parieto-Frontale Integrationstheorie. In Teamarbeit bringen die Komponenten dieses Hirnnetzwerks dabei Höchstleistungen bei der gezielten und konzentrierten Verarbeitung und Integration vielfältiger Informationen.

Masse alleine reicht nicht

Doch auch wenn diese Annahme inzwischen widerlegt ist, lässt sich nicht jeglicher Zusammenhang zwischen Gehirngröße und IQ abstreiten. Ungefähr 15 Prozent der Unterschiede im IQ lassen sich tatsächlich anhand der Gehirngröße erklären. Damit kann man aber noch lange nicht von der Schädelgröße oder dem Gehirnvolumen eines Menschen auf seinen IQ schließen. Das zeigt auch der Größenvergleich der Gehirne zweier gleichermaßen klug geschätzer Schriftsteller: So lag das Gehirn des irischen Schriftstellers Jonathan Swift (1667-1745) mit 2000 Kubikzentimetern weit über dem menschlichen Durchschnitt von 1360 Kubikzentimetern. Dagegen wirkte der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France (1844-1924) mit nur 1000 Kubikzentimetern geradezu wie ein Schrumpfkopf.

 

Die graue und weiße Masse des Gehirns allein macht also noch nicht schlau. Aber wo in der Fülle der Windungen lohnt sich die detektivische Feinarbeit? Einer der ersten Kandidaten für die genauere Betrachtung ist der Frontallappen. Lange glaubte man, dass dieser vordere Teil des Hirns im Zuge der Menschwerdung am meisten gewachsen ist. Das hat sich zwar inzwischen als Trugschluss herausgestellt. Doch in Scans der Positronenemissionstomografie sind Teile des Frontallappens bei zahlreichen Aufgaben, die der Intelligenzmessung dienen, besonders aktiv.

 

Andererseits zeigte schon in den 1930er Jahren der kanadische Psychologe Donald O. Hebb (1904-1985), dass es alleine auf den Frontallappen kaum ankommen kann. Seine Untersuchungen von Patienten, denen größere Teile davon entfernt worden waren, ergaben nämlich, dass der IQ durch diese Verluste unbeeinträchtigt blieb. Der Intelligenz anhand von Gehirnen nachzuspüren, die entweder von Geburt an oder auf Grund von Unfällen von der Norm abweichen, erwies sich allerdings auch bei der weiteren Suche als beliebter Kniff. Der deutsche Neurologe Hans Helmut Kornhuber (1928-2009) folgerte beispielsweise aus Untersuchungen an Kindern mit Schäden in der Großhirnrinde, dass jedes Prozent zerstörtes Gewebe mit einer Minderung um drei bis vier IQ-Punkte einhergehe. Bemühungen, Auffälligkeiten in der Gehirnstruktur von Betroffenen kognitiven Besonderheiten zuzuordnen, haben allerdings noch kein klares Bild ergeben. Intelligenz lässt sich nicht in einigen wenigen Windungen des Gehirns verorten.

Netzwerk der Intelligenz

Der Siegeszug der Hirnscanner erlaubte 2007 den US-Psychologen Richard Haier von der University of California und Rex Jung von der University of New Mexico eine wichtige Entdeckung: Die Auswertung von mehr als 30 bildgebenden Studien weise „in markanter Übereinstimmung“ auf ein dezentrales Netzwerk im Gehirn hin. Dessen strukturelle Ausprägung und Aktivierung ermögliche bei Denkaufgaben eine verlässliche Vorhersage von Intelligenzleistungen.

 

Ihr Modell klingt ein bisschen wie ein Sportprogramm, widmet sich jedoch ausschließlich der mentalen Muskulatur: „P-FIT“ (Parieto-Frontale Integrationstheorie) beschreibt ein Netzwerk, das sich unter anderem aus Teilen des Frontal- und Parietallappens zusammensetzt. Die P-FIT-Komponenten steuern dabei unterschiedliche Zutaten zur Schlauheit bei.

 

Haier und Jung ordnen ihnen zudem mehrere Stufen der „intelligenten“ Informationsverarbeitung zu. Beispielsweise verarbeiten verschiedene Regionen des Netzwerkes auf der ersten Stufe zunächst Sinneseindrücke. Auf den weiteren Stufen werden diese Sinnesinformationen zusammengeführt und ausgewertet. Unter anderem Areale im Frontallappen testen dabei verschiedene Lösungen für das jeweils gerade anstehende Problem.

 

Viele weitere Studien haben P-FIT seitdem weitgehend unterstützt und noch um einige Komponenten erweitert. So nahm etwa 2010 ein Team um den Psychologen Jan Gläscher vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 241 Patienten mit Schäden in unterschiedlichen Gehirnregionen unter die Lupe. Ihre Untersuchungen zeigten, dass Schädigungen in den P-FIT-Arealen die Intelligenz besonders beeinträchtigten. Eine wichtige Rolle ergab sich dabei auch für Merkmale, die ein effektives Arbeitsgedächtnis unterstützen. Dazu gehört vor allem eine gut ausgebildete weiße Substanz zwischen Parietal- und Frontallappen, die aus von Myelinscheiden umwickelten Nervenfasern besteht.

Verbesserte Kommunikation

Die Myelinschicht isoliert die Nervenfortsätze und ermöglicht so eine schnellere Signalübertragung und damit bessere Kommunikation zwischen den P-FIT-Zentren. Auch eine besonders gut ausgeprägte Verbindung zwischen den Gehirnhälften brachten mehrere Arbeiten mit höherer Intelligenz in Verbindung.

 

Was sich in vielen Studien und unter Ausreizung moderner bildgebender Verfahren erst herauskristallisiert hat, bestätigt anekdotenhaft auch ein Blick zurück in die Ära vor dem Hirnscanner: Die altmodische Analyse von Albert Einsteins genialem Gehirn, das 1955 erst fotografiert und dann in 240 Würfel zerschnitten wurde, passt prima zu P-FIT. Zu den potenziellen Auffälligkeiten gehören besonders komplizierte Falten im Frontallappen, zudem eine fehlende Furche im Parietallappen, die eventuell Kommunikationswege zwischen Nervenzellen verkürzt. Und zu guter Letzt: eine besonders ausgeprägte Verbindung zwischen den Hirnhälften.

zum Weiterlesen:

·       Jung, RE, Haier, RJ: The Parieto-Frontal Integration Theory (P-FIT) of intelligence: converging neuroimaging evidence, The Behavioral and Brain Sciences 2007 30(2), S.135-54, zum Abstract

·       Men, W. et al: The corpus callosum of Albert Einstein‘s brain: another clue to his high intelligence?, Brain 2013. zum Abstract

·       Rushton, JP, Ankney, CD: Whole brain size and general mental ability: a review, International Journal of Neuroscience 2009 119 (5), S. 692–732, zum Abstract

Gastbeitrag von: Dr. Nora Schultz

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