„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Achtsamkeit im Alltag

Ein Meditationsprogramm mit einfach zu lernenden Konzentrations- und Bewegungsübungen  verbessert die Lebensqualität, stärkt die Gesundheit und hat inzwischen sogar die Arbeitswelt erreicht. Britta Hölzel hat die MBSR in Harvard erforscht.

Wo bin ich? Jetzt gerade? Geistig? – Die wenigsten Menschen können diese Fragen mit „im Hier und Jetzt“ beantworten. Denn meistens vertreibt sich unser Geist die Zeit mit Erinnerungen, Problemen, Grübeleien. Und leider sind es häufig unangenehme Gedanken, geht es darum, was im Leben nicht läuft. Man muss nicht die gesamte buddhistische Lehre von der Überwindung des Leids unterschreiben, um zu erkennen, dass Gedanken an Pleiten, Pech und Pannen das Leben nicht glücklicher machen. Tatsächlich liefern sie ihren Anteil am alltäglichen Stress.

 

Untersuchungen der letzten Jahre zeigen zunehmend, dass sich mit der Meditationspraxis der Achtsamkeit einer Reihe stressbedingter, aber auch anderer Erkrankungen begegnen lässt. Zudem lässt sich dieses Verfahren zur Erhöhung des Wohlbefindens und der Lebensqualität einsetzen.

 

Das Konzept der Achtsamkeit stammt ursprünglich aus der buddhistischen Philosophie und wird in der buddhistischen Tradition zum Erlangen unbedingten Wohlbefindens praktiziert. Achtsamkeit wird typischerweise durch formelle Meditationspraktiken kultiviert, zum Beispiel durch Sitzmeditation, Gehmeditation oder achtsame Bewegung. Die Aufmerksamkeit wird dabei auf das Erleben von Körperempfindungen, Emotionen oder Gedanken gerichtet, und diese werden so wahrgenommen, wie sie in einem gegebenen Moment auftreten und wieder vergehen.

 

Dabei übt sich der Meditierende darin, allen Empfindungen mit Offenheit, Akzeptanz und Neugierde zu begegnen. Innere Reaktionen wie Ablehnung oder Anhaftung werden zur Kenntnis genommen, ohne ihnen weiter nachzugeben. Wenn die Aufmerksamkeit abschweift und Tagträumen oder Erinnerungen folgt, wird sie geduldig und stetig zum Objekt der Aufmerksamkeit zurückgeleitet, sobald der Praktizierende dies bemerkt.

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

 

·       Die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) ist ein Gruppenprogramm mit Sitzmeditationen, Konzentrations- und Bewegungsübungen

·       Entwickelt wurde es in den 1970er-Jahren von Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts

·       Die Erfolge des Programms sind gut erforscht. So lässt sich bei Gesunden eine Steigerung des Wohlbefindens nachweisen, bei Patienten hilft es unter anderem gegen Angst und Depression

·       Momentan bemühen sich Wissenschaftler, die Wirkungsweise näher zu erforschen

Eine Praxis der Aufmerksamkeitssteuerung

In den gegenwärtigen Stressreduktionsprogrammen werden die Achtsamkeitsübungen meist vermittelt, ohne dass dabei auf die zugrunde liegende buddhistische Philosophie eingegangen wird. Bereits im buddhistischen Kontext war die Praxis der Achtsamkeit nicht an das Befolgen religiöser Glaubensregeln geknüpft, sondern stellte vielmehr eine mentale Praxis der Aufmerksamkeitssteuerung und der inneren Haltung dar.

 

Eines der ersten westlich-angepassten achtsamkeitsbasierten Programme ist die so genannte Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), zu Deutsch: achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Die Methode wurde Ende der 1970er-Jahre von Jon Kabat-Zinn am Center for Mindfulness der University of Massachusetts Medical School entwickelt. Bei MBSR handelt es sich um ein über acht Wochen laufendes Gruppenprogramm. Die Gruppe kommt einmal in der Woche für eine circa zweieinhalbstündige Sitzung zusammen und trifft sich zusätzlich für einen circa sechsstündigen Übungstag am Wochenende der sechsten Kurswoche.

 

Während der Sitzungen werden verschiedene Praktiken vermittelt, die darauf abzielen, Achtsamkeit zu entwickeln. So enthält der Kurs Sitzmeditationen, bei denen der Fokus der Konzentration zunächst auf die Atemempfindung gerichtet wird, in späteren Wochen auch auf Körperempfindungen, Hören, Sehen, Emotionen und auf Gedanken. Zum Ende der Meditationen im weiter fortgeschrittenen Kursverlauf wird die Aufmerksamkeit auch zum Gewahrsein an sich gebracht, ohne dass ein bestimmtes Objekt in den Blickpunkt genommen wird. Neben den Sitzmeditationen wird im Kurs auch der so genannte „Bodyscan“ vermittelt – eine Übung, bei der die Aufmerksamkeit systematisch durch den ganzen Körper geführt wird – sowie achtsame Bewegungs- und Dehnübungen (sehr einfache Yogaübungen) und Gehmeditation.

 

Die verschiedenen Übungen dauern bis zu 45 Minuten und werden von den Kursteilnehmern auch täglich zuhause eingeübt, sie werden dabei angeleitet von Tonaufnahmen per CD oder MP3-Player. Allen Übungen ist gemein, dass den Teilnehmern vermittelt wird, die Konzentration im gegwuenwärtigen Moment zu halten beziehungsweise dorthin zurückzuführen, wenn sie abgewandert ist. Anstatt in gewohnte Muster der Bewertung und des Widerstandes zu verfallen, werden die Teilnehmer dazu angeregt, wiederholt eine offene, freundliche und neugierige Haltung allem Erlebten und sich selbst gegenüber einzunehmen.

Achtsam beim Abwasch

Neben den formellen werden informelle Übungen einbezogen, um die Achtsamkeit zunehmend ins tägliche Leben zu integrieren. So nehmen die Kursteilnehmer zum Beispiel eine Mahlzeit achtsam ein und entwickeln Achtsamkeit gegenüber täglichen Aktivitäten wie Abwasch, Duschen oder Zähneputzen. Sie versuchen ihr typisches eigenes Stressverhalten zu erkennen und mit Achtsamkeit auf stressauslösende Situationen zu reagieren.

 

In jeder Gruppensitzung werden die Erfahrungen der Kursteilnehmer reflektiert, Fragen geklärt und Hinweise zum Üben gegeben. Daneben werden im Kurs weitere Themen behandelt wie zum Beispiel der förderliche Umgang mit Krankheit und Heilung, Stressphysiologie und das Durchbrechen der Stressspirale mittels Achtsamkeit, achtsame Kommunikation oder der Einfluss von Ernährung und verschiedenen Aktivitäten (darunter auch Fernsehen und anderer Medienkonsum) auf das Wohlbefinden. Dies dient dazu, die Perspektive auf Erleben und Verhalten zu erweitern und den Teilnehmern Anstöße zu geben, Verhaltensweisen zu wählen, die das eigene Wohlbefinden fördern.


Das MBSR-Programm diente als Grundlage für eine Reihe weiterer Programme, die auf spezifische Problem- und Interessensbereiche angewendet werden: zum Beispiel die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) in der Depressions-Rückfallprophylaxe, die Mindfulness-Based Relapse Prevention (MBRP) bei Suchtproblemen, das Mindfulness-Based Eating Awareness Training (MB-EAT) bei Essstörungen und das Programm Mindfulness-Based Childbirth and Parenting (MBCP).

Eine Flut von Publikationen

Die Anzahl der Publikationen im Bereich der Achtsamkeitsforschung ist in den letzten zwei Jahrzehnten exponentiell angestiegen. Im Oktober 2013 waren über 1.600 Publikationen in der PubMed- Datenbank registriert. Die Forschung hat gezeigt, dass Achtsamkeitsmeditation zu einer Anzahl positiver Effekte bei psychiatrischen, psychosomatischen und stressbezogenen Erkrankungen führt. Sie wird deshalb zunehmend in psychotherapeutische Programme integriert. Achtsamkeitsbasierte Interventionen werden unter anderem erfolgreich in der Behandlung von Angststörungen eingesetzt, zur Rückfallprophylaxe bei wiederkehrenden depressiven Episoden, bei Substanzabhängigkeit sowie bei Eßstörungen. Einige Studien zeigen außerdem positive Effekte von Achtsamkeitsmeditation bei bipolaren Erkrankungen und bei Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Es wurde auch über eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität bei verschiedenen körperlichen Erkrankungen berichtet, zum Beispiel bei chronischen Schmerzen und Krebs. Wie Meditation heilt

 

Weiterhin wurde nachgewiesen, dass Achtsamkeitsmeditation positive Wirkungen auf eine Reihe von gesundheitsbezogenen Variablen hat. So wurden z.B. eine verbesserte Funktion des Immunsystems nachgewiesen, reduzierte Blutdruck-werte, und reduzierte CortisollevelAchtsamkeitsmeditation wird nicht nur 
erfolgreich in der Behandlung von Erkrankungen eingesetzt; es wurde auch gezeigt, dass es bei gesunden Teilnehmern zu einer Erhöhung des psychischen Wohlbefindens und zur Stressreduktion führt.

 

Die derzeit jüngste Metaanalyse zur Berechnung der Effekte von achtsamkeits-basierten Interventionen, die die Effekte auf verschiedene psychische Erkrankungen kombinierte, kam zu der Schlussfolgerung, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen im Vergleich zu einer Warteliste-Kontrollgruppe oder in reinen Vorher-nachher-Messungen mittelgroße Effektstärken aufwiesen. Im Vergleich zu anderen Behandlungen ergab sich noch eine kleine bis mittlere Effektstärke, das heißt: Die achtsamkeitsbasierten Therapien waren erfolgreicher als die Kontrollprogramme. Achtsamkeit erwies sich jedoch nicht als erfolgreicher als kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen. Die deutlichsten Effekte zeigten sich bei Angstsymptomen und Depressionen; hier zeigten sich große Effektstärken.

 

Trotz der steigenden Zahlen an Publikationen ist das Feld relativ jung, und eine Replikation vieler Befunde steht noch aus. Es ist zudem wichtig, dass die bisher gewonnenen Erkenntnisse in methodologisch besser kontrollierten Studien nachuntersucht werden. Obwohl erste Befunde vielversprechend sind, steht noch viel wissenschaftliche Arbeit an, um die Wirkungsweise und Effekte der Achtsamkeitspraxis besser zu verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass Sie nicht noch heute damit anfangen können.

zum Weiterlesen:

·       MBSR/MBCT Verband, URL: www.mbsr-verband.org [Stand: 15.04.2014], zur Webseite

·       Arbor Seminare, URL: http://www.arbor-seminare.de/lehrerliste [Stand: 15.04.2014] zur Webseite

·       Baer RA, Mindfulness training as a clinical intervention, A conceptual and empirical review, Clinical Psychology, Science & Practice, 10(2):125-143 2003, zum Text

·       Ekman P et al, Buddhist and Psychological Perspectives on Emotions and Well-Being, Current Directions in Psychological Science, 14(2):59-63 2005, zum Text

·       Khoury, B et al, Mindfulness-based therapy, A comprehensive meta-analysis, Clinical Psychology Review, 33(6):763-771 2013, zum Abstract

Gastbeitrag von: Dr. Britta Hölzel

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