Der evangelikale Christ Markus WIDENMEYER schreibt in seinem Buch, Moral setze die Existenz eines
zeitlosen, göttlichen Wesens voraus, das ihre objektive Gültigkeit garantiere:
"Moral kann es nur geben, wenn die Welt so beschaffen ist, dass die Frage, warum eine bestimmte moralische
Norm wirklich Gültigkeit besitzen soll, prinzipiell beantwortet werden kann. Eine moralische Intuition reicht hier nicht aus. Erstens kann sie zum Beispiel durch ideologische
Einflüsse stark verfälscht sein. Noch wichtiger ist, dass solche Intuitionen moralische Sachverhalte bestenfalls anzeigen, aber nicht deren Gültigkeit erzeugen können. Ein wirklicher moralischer
Anspruch setzt folglich das Vorhandensein einer absoluten moralischen Autorität voraus, die seine objektive Gültigkeit verbürgt" (S. 34).
"Weder materielle nichtgeistige Dinge noch endliche Personen, wie wir es sind, kommen hierfür in Betracht ... Nötig ist vielmehr eine absolute Person, die mit ihrem Wesen und Willen die absolute
Gültigkeit universeller moralischer Maßstäbe garantiert" (S. 198).
Der "Darwinismus und der Naturalismus", so der Autor, seien "entscheidende Grundlagen der Ideen Hitlers und des Marxismus" gewesen. Entsprechend hätten sich
"diese Gedankensysteme ... durch massive Menschenrechtsverletzungen hervorgetan" (S. 91). Und: "Der Naturalismus ist … der eigentliche Unterbau der voranschreitenden sittlichen Verwahrlosung und
Dekadenz unserer Zeit" (S. 221). Da nichtreligiöse Menschen die Existenz übernatürlicher Wesenheiten verneinen, verfügten sie über keine Moral, die diesen Namen verdiene.
Was ist dran an dieser Argumentation? Gibt es objektiv gültige normative Aussagen? Lässt sich Moral mit "Gott" rechtfertigen? Sind
naturalistisch-humanistische Ethiken irrational und willkürlich? Tragen Darwinismus und Naturalismus Schuld an den Verbrechen der Nazis und Stalinisten? Und vor allem: Lässt
sich eine verantwortbare Moral auf den Wortlaut der Bibel gründen? Um es vorwegzunehmen: Der Autor läuft in alle Gegenargumente, die Philosophen seit Jahrhunderten gegenüber der
Begründung von Moral durch göttliche Autorität vorbringen.
Als erstes ist anzumerken, dass WIDENMEYERs Glaubensethik im breitgefächerten Spektrum des Theismus nur eine kleine Nische belegt. Sie genießt in den Offenbarungsreligionen wie dem Christentum
und dem Islam eine gewisse Popularität. Andere Religionen, wie etwa der Buddhismus und Jainismus, begründen ihre Moral nicht mit einer "absoluten moralischen Autorität", da sie weder Offenbarung
noch Kulte kennen.
Auch im Christentum richtet sich die Ethik methodisch neu aus: Moraltheologen wie Alfons AUER,
Franz BÖCKLE, Josef FUCHS und viele andere betonen, dass Religion keine argumentative Voraussetzung für die Legitimation sittlicher Normen sein könne (vgl. AUER 2016; VAZ 2014). Moral bedürfe
einer vernünftigen, rational nachvollziehbaren Begründung statt des Verweises auf die Theologie.
Anders gesagt, der Autor baut einen falschen Gegensatz auf. Nicht der Naturalismus verkörpert die Antithese zu dessen Moraltheologie, sondern
jede Religion und Ontologie, die von einer autonomen Moralbegründung ausgeht. Selbst in der christlichen Theologie stellt WIDENMEYERs strikte Glaubensethik heute eine Minderheiten-Position dar.
Daher ist seine Argumentation gegen den Naturalismus so unergiebig.
"Moralische Sachverhalte [Gebote, Verbote] bestehen, wenn es sie gibt, im eigentlichen, strengen
Sinne objektiv: Sie hängen zum Beispiel nicht davon ab, was Menschen zu einer bestimmten Zeit als moralisch empfinden, allein schon deshalb nicht, weil unser moralisches Empfinden zum
Beispiel durch Medien und Politik sehr stark beeinflussbar ist. Moral hängt nicht davon ab, was besonderen menschlichen Interessen entspricht oder was lediglich von Menschen erlassene Gesetze
verbieten, befehlen oder erlauben. Moralische Sachverhalte sind selbstständig, sie können nicht auf andere, nicht-moralische Sachverhalte zurückgeführt werden und sie sind nicht von
ihnen abhängig" (S. 33).
Hinsichtlich der Frage, ob es objektiv gültige (absolute) normative Aussagen gibt, beziehen Naturalisten zumeist den Standpunkt des moralischen Subjektivismus (z. B. MACKIE
1977, S. 18). Danach sind Aussagen objektiv gültig, wenn sie unabhängig vom bewertenden Subjekt (faktisch) wahr sind. Wahr können in diesem Sinn
nur beschreibende Aussagen sein, da Wahrheit Übereinstimmung einer Aussage mit der Realität bedeutet. NormativeAussagen (über das, was sein soll) gehören
nicht in diese Kategorie. Zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, klafft eine logische Lücke: Aus dem Sein lässt sich nicht ohne weiteres auf das Sollen
schließen (HUMEs Gesetz).
Beschreibende und normative Aussagen haben einiges gemeinsam. Wir können sie postulieren, aus anderen Aussagen ableiten, auf Widerspruchsfreiheit testen, kritisieren usw. Gleichwohl bleibt ein
entscheidender Unterschied:
"Beschreibende Aussagen können wahr sein, normative Aussagen nicht. Fakten werden in der Natur gefunden, Normen nicht. Deshalb können deskriptive Aussagen empirisch getestet werden, normative Aussagen nicht. Während wir gute Gründe haben mögen, für eine Beschreibung Wahrheit zu beanspruchen, können wir niemals gute Gründe haben, für Normen Geltung zu beanspruchen" (VOLLMER 1985, S 184).
Das bedeutet nicht, dass sich Moral nicht auf Wahres beziehen kann und sollte. Die Aussage beispielsweise, dass chronischer Hunger Leid verursacht und dem
friedlichen Zusammenleben schadet, ist faktisch wahr. Daraus lässt sich die Maxime ableiten, dass wir um der menschlichen Bedürfnisse Willen und im Interesse des friedlichen
Zusammenlebens aller versuchen sollten, Hungersnöte einzudämmen.
So nachvollziehbar diese moralische Forderung ist, so wenig gibt es eine davon losgelöste, objektive Verpflichtung zur Beseitigung des
Hungers. Frühchristliche Mönche, die Anachoreten, sahen im Hungern gar einen erstrebenswerten Zustand auf dem Weg zu Gott und in ihren Bedürfnissen ein
Hindernis. Sie versetzten ihren Körper bewusst in einen elenden Zustand, denn Askese und Schmerzerfüllung waren für sie von hohem moralischem Wert. Wir müssen uns also,
wie MACKIE (1977) betont, mit subjektiven Ansprüchen auf ethisch richtige Interessen begnügen.
Der Glaube an Gott ändert an dieser Einsicht nichts. Zum einen kennt die Geschichte Tausende Götter, die den Menschen teils unterschiedliche Verhaltensregeln
abverlangen. Soll ein Religiöser nun den Gesetzen Allahs, Jahwes, Wotans oder Huitzilopochtli folgen? WIDENMEYER kann nicht intersubjektiv nachvollziehbar begründen, warum die
Gebote und Verbote der Bibel objektiv gültig sein sollen, die des Korans oder der Azteken aber nicht. Dazu kommt, dass Christen teils unterschiedliche moralische
Sachverhalte aus der Bibel herauslesen. Dies beweist etwa der Theologen-Streit um die Akzeptanz von Homosexualität durch Jesus.[1]
Damit sind wir beim nächsten Argument, das gegen den Wertabsolutismus spricht, bei der Zeit- und Kulturabhängigkeit von Geboten: Manche
Gesellschaften empfinden die Blutrache als gerecht, als Vollzug der von Gott verhängten Strafe. In der modernen westlichen Welt gilt sie als Verbrechen. Die Autoren der Bibel verteidigten die
Sklaverei noch dezidiert. Auch die Liberalen befürworteten sie bis ins 19. Jahrhundert (Charles DARWIN war die große Ausnahme). In der Abendländischen Kultur
gilt sie heute als höchst unmoralisch. Alttestamentarische Texte fordern die Tötung praktizierender Homosexueller, heute stufen dies auch Christen überwiegend als Mord
ein.
Die Geschichte zeigt: Die Christen passten ihre Moralvorstellungen an die Werte der Aufklärung an. Gäbe es eine objektive Moral und einen
verbindlichen Wortlaut der Bibel, wäre dies nicht gerechtfertigt. Wir können also nichtsagen, bestimmte Verhaltensweisen oder Gebote und Verbote
seien objektiv richtig oder falsch, gut oder böse. Sie sind es relativ zu unseren Interessen, Überzeugungen, Einsichten usw.
"Der Mensch als Gattung und als Individuum existiert, weil Gott dies wollte, und er hat ihn entsprechend in einen Sinn und Zweckzusammenhang hineingestellt. Der Mensch handelt nur dann moralisch, wenn er gemäß dieser Sinn- und Zweckbestimmung lebt" (S. 35).
Nehmen wir an, es gäbe diesen Gott: Wäre es dann ethisch
gerechtfertigt, moralische Maßstäbe nach seinen Geboten auszurichten? Um diese Frage dreht sich ein berühmtes philosophisches Problem des Philosophen PLATON, das unter dem Begriff
"EUTHYPHRONs Dilemma" bekannt ist. In dem fiktiven Dialog zwischen seinem Lehrer SOKRATES und dem Seher EUTHYPHRON lässt PLATON SOKRATES die entscheidende Frage stellen:Wird das Fromme von den
Göttern geliebt, weil es fromm ist, oder ist es fromm, weil es geliebt wird? Im Lauf der Philosophiegeschichte wurde diese Frage auf die Problematik der theologischen Begründung von "Gut
und Böse" bezogen. Es geht um die Frage, ob Werte durch den göttlichen Willen (objektiv) begründbar sind: Ist etwas gut, weil Gott es will oder will Gott etwas, weil es gut
ist?
SCHMIDT-SALOMON (2005, S. 6) argumentiert anhand des EUTHYPHRON-Dilemmas gegen die religiöse Moralbegründung. Er befasst sich mit der Frage, was ein Religiöser
antworten würde, wenn ihm Gott beföhle, kleine Kinder zu foltern oder zu töten.[2]
Diese Frage stellt den Gläubigen vor ein ethisches Dilemma. Entweder, er antwortet, dass Gottes Befehle per Definition gut seien. In diesem Fall
hätten die Begriffe Gut und Böse keinen eigenen Inhalt, weil die Bedeutung des Wortes "Gut" auf den Willen Gottes reduzierbar wäre. Dann müsste sich der Gläubige damit abfinden, dass Gottes Wille
auch dann moralisch richtig wäre, wenn er offensichtlich Inhumanes einfordern würde. Die Ethik als philosophische Disziplin würde sich auflösen. Gläubige können
dieser Gebotstheorie eigentlich nicht folgen, weil sie absurde Konsequenzen hat. Nicht nur Gottes Gebote wären willkürlich, auch der Begriff "Gottes Güte" wäre, wie BUNGE &
MAHNER (2004, S. 187) erläutern, sinnlos:
"Wenn 'x ist gut' einfach bedeutet 'x ist von Gott geboten', dann bedeutet 'Gottes Gebote sind gut' nur 'Gottes Gebote sind von Gott geboten'. Letztlich wäre also auch Gott nur deshalb gut, weil er sich selbst dieses Prädikat ausstellt."
Moral und Anstand verkämen zu Willkürentscheidungen einer nicht hinterfragbaren Autorität: Eine objektive Moral wäre dadurch nicht gewährleistet,
denn woran ließe sich ein guter Gott noch von einem bösartigen Gott unterscheiden? Das Prädikat der "Güte" könnte sich genauso gut der Teufel
ausstellen.[3]
Die zweite Möglichkeit, auf die Frage zu reagieren, liegt in der Antwort, dass Gott als der Gute niemals inhumane Befehle erteilen würde. Aber
dann gäbe es ethische Standards jenseits von Gott, die ihm (und mir!) sagen, was gut ist und was böse. Gott wäre nicht der Autor moralischer Gebote, sondern
bestenfalls ein "kosmischer Polizist", der moralische Verstöße sanktionierte (BUNGE & MAHNER 2004, S. 187).
In beiden Fällen wäre es ethisch nicht gerechtfertigt, moralische Maßstäbe nach Gottes Geboten auszurichten. Im einen Fall haben die Begriffe Gut und
Richtig keinen eigenen Inhalt und entziehen sich jeder Rechtfertigung, im anderen gibt es ethische Standards jenseits von Gott. Eines von beiden "Hörnern" des Dilemmas
muss der Gläubige akzeptieren. Damit ist WIDENMEYERs theistische Moralbegründung gescheitert.
Wir halten fest: Der Glaube an eine transzendente Instanz ("Gott") ist kein guter Grund, Geltung für Moral zu beanspruchen. Alle Versuche einer ethischen
Rechtfertigung moralischer Sachverhalte durch absolute angenommene Wesen erweisen sich als unhaltbar. Dies gilt auch dann,
"wenn sie vom Himmel zu fallen scheinen; denn wie soll ich erkennen, dass diese Gebote wirklich von Gott stammen" (VOLLMER 2014, S. 38)?
Selbst wenn dies nachgewiesen wäre: Wonach
beurteilt der Gläubige, ob sie von einem achtbaren oder unreputierlichen Gott stammen? WIDENMEYER stellt sich solchen Fragen erst gar nicht. Vielmehr betrachtet er den von archaischen
Hirtenvölkern formulierten Moralkodex als sakrosankt. Dadurch unterminiert er jeden kritischen Diskurs hinsichtlich der Adäquatheit bestimmter Moralvorstellungen schon im Ansatz. Er
gibt den Verstand "an der Tür zu seinem Gott" ab und ereifert sich in blindem Autoritätsgehorsam. Dies ist eine infantile und mit Blick auf den politischen Islamismus äußerst gefährliche
Ethik.
Letztlich müssen Gesellschaften moralische Grundsätze triftig aus zuvor festgelegten gesellschaftlichen Zielen ableiten (Dezisionismus). Auch Menschen mit
verschiedenen Weltanschauungen können sich auf die für ein geordnetes Zusammenleben in Glück, Frieden und Freiheit erforderlichen Regeln einigen. Diese Regeln sind zwar ebenso wenig
objektivierbar und absolut wie alle anderen Ethiken. Aber da Tiere wie Menschen Schmerzen vermeiden und ihre Freude maximieren möchten, ist eine Sozialstruktur, die für diese Maximen
einsteht, ethisch legitim. Umgekehrt wäre es fatal, wenn unsere Moral von Gott abhinge. Dann verflüchtigte sich bei berechtigten Zweifeln am metaphysischen Überbau die
Moral.
Bezeichnenderweise
geht WIDENMEYER nur in einer Fußnote auf EUTHYPHRON ein. Er deutet darin an, dass das Dilemma aus ontologischer Sicht nicht existiere:
"Die Problematik dürfte ihren Ursprung darin haben, dass insbesondere der Wille Gottes als rein formaler und isolierter Aspekt angesehen wird, losgelöst von den anderen Wesenszügen Gottes. Eine ontologische Fundierung der Moral unabhängig von Gott scheint hingegen nicht möglich zu sein: Wie wir in Abschnitt 3.1 gesehen haben, bedarf eine echte moralische Norm einer vollständigen Rechtfertigung, wofür nur eine absolute Autorität und damit eine absolute Person in Frage kommen" (S. 198)
Leider geht aus diesem Abschnitt nicht hervor, wie das Problem
aus Sicht des Autors zu beheben sei. Vorschläge haben dazu andere unterbreitet.
Zum Beispiel macht BAGGETT (2002, S. 36) geltend, dass die zwei Antworten in Gestalt der beiden "Hörner" des Dilemmas nicht erschöpfend seien. Er beruft sich auf
MACBEATH (1982), aus dessen Sicht uns Gott seine Moral in der Absicht auferlege, das Glück der Menschen zu maximieren. Ähnlich argumentiert der Religionsphilosoph William CRAIG. Wenn wir, so
CRAIG (2010), Gott als das ultimative Gute begreifen, könnten seine moralischen Grundsätze nicht den Missbrauch von Kindern beinhalten. Andernfalls würde er sein Wesen konterkarieren. Aus
logischen Gründen könne Gott ebenso wenig gegen seine Natur handeln wie er einen quadratischen Kreis erschaffen könne (CRAIG 2010, S. 136). Folglich müsse dieser nicht definieren, was gut ist und
sich nicht zwischen gut und schlecht entscheiden.
Doch die These, Gott könne nichts Böses befehlen, weil dies gegen seine Natur gerichtet wäre, löst das Dilemma nicht, sondern verlagert es
nur. Dann stellt sich die Frage: Kann Gott seine Natur frei wählen? Falls nicht, wäre er unfähig, Moral autonom zu bestimmen. Falls doch, münden
die Antworten in das alte Dilemma: Bestimmte Gott seine Natur ohne zureichenden Grund, wären seine Gebote willkürlich. Ließe sich für sein Wesen dagegen eine raison
suffisante angeben, ein zureichender Grund, richtete er seine Natur an ethischen Kriterien aus, die unabhängig von ihm existierten. Deutlich wird dies bei CRAIG: Indem
er sagt, Gott sei das ultimative Gute, wählt er eine Kategorie (Güte), die sich nicht über Gott definiert. Andernfalls wäre der Begriff von Gottes Güte
tautologisch.
Ein anderer Versuch, das Dilemma zu umgehen, ist die Naturrechtslehre Thomas von AQUINs. Sie geht davon aus, dass sich in der
Schöpfungsordnung moralische Werte widerspiegeln: Das Natürliche sei das Gute, das Unnatürliche das Falsche. Doch auch die Naturrechtslehre löst das Euthyphron-Dilemma nicht.
Vielmehr wirft sie eine Reihe weiterer Probleme auf. Zum Beispiel interpretieren Naturrechts-Verfechter homosexuelles Verhalten willkürlich als unnatürlich. Da dieses bei Mensch und Tier weit
verbreitet ist, lässt es sich genauso gut als natürlich und damit als moralisch richtig bezeichnen. Umgekehrt wäre medizinisches Forschen unmoralisch, weil es dem Schöpferwillen zuwiderhandelt.
Schließlich hat dieser Krankheitserreger vermeintlich zu dem Zweck erschaffen, Lebewesen zu infizieren. Zu guter Letzt sieht sich die Naturrechtslehre mit
dem Theodizee-Problem in all seinen Facetten konfrontiert. (Näheres zu den genannten Problemen in BUNGE & MAHNER 2004, S. 189ff.)
Da der Wertabsolutismus unhaltbar ist, stellt sich die Frage, inwieweit sich
Menschen moralische Urteile anmaßen dürfen:
"Es ist hierbei auffallend, wie heute einige führende Naturalisten in oft aggressiver Weise anklagend und moralisierend gerade gegenüber den Religionen auftreten. … Hierfür liefert uns Richard Dawkins, einer der derzeit prominentesten Naturalisten, ein typisches Beispiel. In seinem millionenfach verkauften Buch Der Gotteswahn schrieb er: 'Der Gott des Alten Testaments ist die unangenehmste Gestalt der gesamten Dichtung: eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Kontroll-Freak; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer …' … Der hier entscheidende Punkt ist …, dass Dawkins im Rahmen seiner naturalistischen Weltsicht keinerlei rationale, gerechtfertigteGrundlage für irgendeine 'moralische' Anklage hat, weil es in seiner Welt keine rational begründbaren moralischen Maßstäbe geben kann. Als moralische Aussagen verstanden enthielten seine Anklagen nicht mehr Sinngehalt oder Bedeutung als Meeresrauschen oder Vogelgezwitscher" (S.76f).
Warum? Das Fehlen objektiver Werte impliziert weder ethische Willkür noch das Fehlen eines Maßstabs noch Irrationalismus (MACKIE 1977, S. 27). Ganz im
Gegenteil: Naturalistisch-humanistische Ethiken setzen auf unabhängig-kritisches Denken und auf die Einsicht in Notwendigkeiten, die für ein gedeihliches Zusammenleben
erforderlich sind. Sie fragen danach, welche Gebote den Menschen nützen statt irgendwelchen gefallsüchtigen Herrschern oder Göttern. Kurz: Ihre rationale Grundlage besteht in der
Hinwendung zum Kritisierbarkeitsprinzip und zum sozialpragmatischen Kriterium des Wohlergehens aller Personen (SUKOPP 2003, S. 74).
Allgemein stehen Symmetrie- und Brückenprinzipien, die unserer Bedürfnissituation und unseren empirischen Möglichkeiten Rechnung tragen, im Fokus
naturalistisch-humanistischer Ethiken. Daraus ergeben sich Handlungsmaximen, welche die Distanz zwischen Sein und Sollen überbrücken und normative Sätze der rationalen Kritik aussetzen. Ein
Beispiel für ein solches Symmetrieprinzip ist die Goldene Regel: Behandle andere wie Du möchtest, dass sie Dich behandeln. Im System Immanuel KANTs entspricht dies dem Prinzip des
Kategorischen Imperativs: Handlungen sind moralisch genau dann richtig, wenn der Mensch widerspruchsfrei fordern kann, dass seine Maximen zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung
werden.[4]
Entscheidend ist, dass der kategorische Imperativ und die Goldene Regel ohne Bezug zu Gott und seinen apriorischen Forderungen formulierbar sind. (Letztere war
schon in der griechisch-römischen Antike bekannt). Sie resultieren aus der Einsicht, dass ohne Mord und Diebstahl jeder besser und sicherer lebt.
Ein wichtiges Brückenprinzip wiederum ist das Realisierungs-Postulat nach ALBERT (1991, S. 92). Es besagt, wer etwas tun solle, müsse dazu
prinzipiell in der Lage sein. Von Menschen etwas zu fordern, was ihrer Natur widerspricht, ist rational bzw. ethisch nicht zu rechtfertigen und in diesem Sinn unmoralisch. Religiöse
Moralvorstellungen scheitern oft an dieser normativen Meta-Regel. Sie laufen, wie KANITSCHEIDER (2003, S. 34) zeigt, ständig Gefahr, die Menschen "aufgrund ihrer apriorischen Setzung in unsinnige
Konflikte hinein zu manövrieren":
"Der Paradefall eines solchen Konfliktes war die über Jahrhunderte verteidigte Sexualethik, in der an die Menschen den biologischen Programmen extrem zuwiderlaufende Forderungen gestellt wurden, die auf der anderen Seite für ein glückliches Zusammenleben der Geschlechter gar nicht erforderlich war. Die normative Prinzipien-Ethik entartete in diesem Fall zu einem Zwangssystem, weil keine Brücken zur faktisch im Menschen verankerten Triebsituation vorhanden waren. In Kants 'Metaphysik der Sitten' findet man viele Beispiele dafür, wie idealistische Leitvorstellungen ohne Rücksicht auf empirische Gegebenheiten der biologischen Natur des Menschen zu absurden ethischen Forderungen geführt haben" (KANITSCHEIDER 2003, ebd.).
Moderne Vertreter einer evolutiven Ethik, so KANITSCHEIDER weiter, sind bestrebt, die "Dispositionen des Individuums aus der Stammesgeschichte in Rechnung zu
stellen". Ihr Ziel ist es, jeden ein aus seiner eigenen Sicht gelungenes Leben führen statt ihn aus Selbstzweck irgendwelche Prinzipien erfüllen zu lassen. So steht die naturalistische Ethik im
Dienste der Idee eines glücklichen Lebens, dem Zentrum eines modernen säkularen Humanismus. Entgegen dem, was WIDENMEYER und andere unterstellen, fördert sie weder ungesteuertes Triebverhalten
noch sittlichen Verfall:
"Naturalisierung in der Ethik heißt nicht einfach, naturwüchsige Tendenzen gut zu heißen, sondern unser
Gefühl von moralisch Richtig und Falsch, das als Basis für unseren ethischen Kanon dient, als Optimierung der Evolution des Gehirns zu erkennen. Man will also aus der materialen Basis des
moralischen Fühlens die heute akzeptierten Verhaltensregeln gewinnen" (KANITSCHEIDER 2003, S. 34).
Kurzum: Nach EPIKUR ist erlaubt, was dem Glück dient und andere Menschen nicht in ihren Grundrechten einschränkt. Überkommene paternalistische Familienbilder und Rechtsvorstellungen sind ebenso passé wie restriktive Sexualvorgaben und der Zwang zur Askese. EPIKUReer fragen pragmatisch, was dagegensprechen soll, dem Streben nach intellektueller wie emotionaler Lust nachzugeben. Wenn Menschen beispielsweise eine homosexuelle Beziehung führen, die niemandem schadet, ist es irrational und amoralisch, ihnen Schuldkomplexe einzureden. Das archaische Konstrukt einer "gottgewollten Ordnung" ist kaum Menschen dienlich.
WIDENMEYER (S. 90) stellt die steile These in den Raum, es sei aus
naturalistischer Sicht sinnlos, von "der Würde des Menschen" zu reden. Der Naturalismus sei letztlich
"der eigentliche Unterbau der voranschreitenden sittlichen Verwahrlosung und Dekadenz unserer Zeit" (S. 221).
Wie kommt es dann, dass das Volk der Pirahã-Indianer aus dem Amazonasgebiet Brasiliens zu den glücklichsten und friedfertigsten auf der Erde
zählt? Es als "sittlich verwahrlost" zu bezeichnen, wäre eine Infamie. Denn während sich die christlich geprägte Welt im 20. Jahrhundert fast vernichtete, führten
diese Menschen, die keine Zahl und keinen Gott kennen, ein Leben in absoluter Harmonie. Und, so fügt HÖGE (2011) hinzu,
"…weil es bei den Pirahã keine höhere Autorität als den Bericht eines Augenzeugen gibt, stoppten einige ältere Männer, die sich mit dem Autor [dem Sprachwissenschaftler Daniel EVERETT][5] angefreundet hatten, eines Tages auch dessen Missionstätigkeit: 'Die Pirahã wollen nicht wie Amerikaner leben,' sagten sie ihm. 'Wir trinken gern. Wir lieben nicht nur eine Frau. Wir wollen Jesus nicht – und auch nichts von ihm hören.'"
Dieses Beispiel belegt, dass Anstand, Menschenwürde, Friedfertigkeit und Glückseligkeit nicht von Religion abhängen. Gleiches gilt für China, das seit 4.000
Jahren ohne verbindliche gottesbezogene Ethik auskommt. Gleichwohl wissen die Chinesen,
"…dass Mord und Diebstahl böse sind und verboten werden müssen. Seltsam auch, dass die Chinesen Kriege fast ausschließlich zur Verteidigung durchführten, dieweil das christliche Europa einst die ganze Welt mit Gewalt überzog" (DITTMAR 2014).
Auch die säkularen Gesellschaften des Westens sind offensichtlich keine verwahrlosten Orte, die von gewissenlosen, grausamen Hedonisten beherrscht und bevölkert
sind. Warum nicht? Weil Menschen gemäß ihrer Veranlagung soziale, einsichtsfähige und empathische Wesen sind, die über eine Art "angeborene Grammatik" der Moral verfügen. Als
solche halten wir es für falsch, andere Gruppenmitglieder zu belügen, zu bestehlen und ihnen Leid zuzufügen. Denn nur mit teils uneigennützigem Verhalten sind soziale Organisationen (Gruppen,
Kolonien, Staaten) solitären Lebensweisen evolutionär überlegen (REYER & SCHMID-HEMPEL 2011, S. 127). Ist es dagegen nicht eine seltsame These, dass wir unsere Nachbarn nur deshalb nicht
bestehlen, weil wir uns vor dem "Jüngsten Gericht" fürchten? Dazu bemerkt DAWKINS (2007, S. 315):
"Michael Shermer bezeichnet dies in The Science of Good and Evil als das Ende einer jeden sinnvollen Diskussion. Wer meint, er würde ohne Gott zum 'Räuber, Vergewaltiger und Mörder', der entlarvt sich selbst als unmoralischer Mensch, 'und wir wären gut beraten, um ihn einen großen Bogen zu machen.' Räumen wir dagegen ein, dass wir auch ohne göttliche Aufsicht weiterhin ein guter Mensch wären, versetzen wir unserer Behauptung, Gott sei nötig, um gut zu sein, einen tödlichen Schlag."
In der jesuanischen Ethik ist nicht von "Einsicht in die Notwendigkeit moralischer Regeln für ein gutes Zusammenleben die Rede", sondern nur von
Vorteilen für das Seelenheil als "primitivste Form der Motivation". Es verwundert nicht, "wenn eine solche Moralität dem Metaethiker als 'infantil' gelten muss, weil sie die Entwicklungsstufe des
autonomen Nachdenkens und ethischen Urteilens nicht erreicht" (BUNGE & MAHNER 2004, S. 196).
Zudem hielt die angeblich gottgegebene Menschenwürde religiöse Fanatiker selten davon ab, sie mit Füßen zu treten. Andersdenkende wurden verfolgt, gefoltert,
verbrannt. Wer als Kind Gewalt und Fanatismus vorgelebt bekommt, bei dem ist die Gefahr groß, dass er selbst Konflikte mit Gewalt löst. Kriegführende Schimpansen legen Zeugnis darüber ab, dass
die dunkelsten Emotionen seit Urzeiten in den Genen stecken.[6]
Um zu "beweisen",
dass ausgerechnet der Naturalismus die Moral verdirbt, darf bei WIDENMEYER das abgedroschene Hitler-Stalin-Argument nicht fehlen:
"Leicht zu belegen gewesen wäre …, dass der Darwinismus und der Naturalismus entscheidende Grundlagen der Ideen Hitlers und des Marxismus waren und dass diese Gedankensysteme, nachdem sie umgesetzt wurden, sich durch massive Menschenrechtsverletzungen hervorgetan haben" (S. 91).
Objektive Recherchen statt die Pflege geliebter Feindbilder und haltloser Vorurteile hätten der Schrift dieses Autors gutgetan. Zunächst: Hitler und der
Nationalsozialismus lassen sich nicht als naturalistisch bezeichnen. Kaum ein höherer Nazi-Funktionär war Naturalist, der Nationalsozialismus ruhte fest im Glauben an eine höhere Macht.
Beispielsweise zeigten Himmler und einige SS-Leute eine Affinität zu neuheidnisch-okkulten Lehren. Und bei den Deutschen Christen handelt es sich um eine antisemitische, am
Führerprinzip orientierte Strömung im deutschen Protestantismus.
Inwieweit es Hitler, der gern von der "Vorsehung" schwadronierte, opportun erschien, sich als gläubig darzustellen, darüber lässt sich streiten. Aber es ist eine
Tatsache, dass Hitler Katholik war, nie exkommuniziert wurde und betonte, im Sinne des Christentums zu handeln. Zudem verehrte er Martin LUTHER wegen dessen Antisemitismus. Legendär
ist Hitlers Ausspruch: "Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn!" RÖHM & THIERFELDER (1990, S. 65) zitieren ihn wie folgt:
"In unseren Reihen dulden wir keinen, der die Gedanken des Christentums verletzt ... Diese unsere Bewegung ist tatsächlich christlich. Wir sind erfüllt von dem Wunsche, dass Katholiken und Protestanten sich einander finden mögen…"
Das Christentum kann auf eine lange Tradition der Judenfeindlichkeit und des Anti-Humanismus zurückblicken. Die Bibel selbst stempelt die Juden zu
Christusmördern, etwa in Mt 27, 15–26. Diese unhistorische Beschreibung legte den Grundstein für fast 2000 Jahre Antijudaismus. Zudem wurde bereits vor 1933 auf kirchlicher Seite lebhaft
über die Beseitigung von "Erbkranken" zum Erhalt der "Volksgesundheit" diskutiert.[7] Die
Anhänger einer christlichen Rassenhygiene benötigten diesbezüglich weder Nachhilfe von den Nationalsozialisten noch Anleihen an den Naturalismus.
Gewiss, die Nationalsozialisten beriefen sich auf krude sozialdarwinistische Ideen. Doch diese beruhen auf einer Fehlinterpretation der DARWIN'schen Theorie (VON
DITFURTH 1987, S. 115ff). Zudem lässt sich einer Theorie, die empirische Tatsachen beschreibt, nicht die Ableitung von Handlungsmaximen zur Last legen. Auf diesem Auge ist WIDENMEYER stockblind.
Wie anders ist es zu erklären, dass er den Naturalismus zu einem "Nährboden für totalitäre Staats- und Gesellschaftsformen" erklärt (S. 90) und die Rolle des Christentums als Garant monarchischer
und feudalistischer Herrschaftsformen sowie als Urgrund für antijüdische Pogrome übergeht?
Selbst als es darauf ankam, gegen den Nationalsozialismus zu opponieren, schwiegen die Kirchen. Von einer moralischen Führung war nichts zu spüren. Hohe
Kirchenvertreter pflegten gute Beziehungen zu den Nazis. Das Konkordat mit dem Dritten Reich verhalf Hitler zu enormem Prestige und ließ Kritiker verstummen. Papst Pius XII. schwieg zum
Holocaust, und die Kirche verstrickte sich in die Fluchthilfe für NS-Verbrecher.
Es ist mühsam, die "Kriminalgeschichte des Christentums" in allen Facetten nachzuzeichnen. Karlheinz DESCHNER gelingt dies in zehn Bänden (DESCHNER 1986ff.). Die
Religion brachte Krieg, Sklaverei, Terror und Tod über die ganze Welt. Für fast jedes Verbrechen lässt sich in den "Heiligen Schriften" eine Rechtfertigung finden.
Nun war Stalin Atheist. Auch sein Regime brachte Gewalt und Tod über die Menschen. Doch im Unterschied zur Religion gibt es keine Agenda des
Naturalismus, auf die sich Stalin hätte berufen können. Dass er Atheist war, war Begleitumstand, nicht die Ursache seiner mörderischen Veranlagung. Es gibt kein
überzeugendes Beispiel, wonach sich jemand auf den Naturalismus berief, um Andersdenkende umzubringen.
Ungeachtet der zweifelhaften These, religiöser Glaube und gottesfürchtiges Handeln seien Ausdruck überlegener Moral, glaubt in säkularen Ländern selbst eine Mehrheit der Atheisten,
Religiöse würden eher zu moralischem Handeln neigen als Nichtreligiöse (GERVAIS et al. 2017). Was ist dran an dieser These?
SASLOW et al. (2013) konnten in ihrer Studie zeigen, dass Religiöse nicht moralischer handeln als Atheisten,
sondern prinzipientreuer. Nicht und wenig religiöse Personen ließen sich eher von Gefühlen leiten, stark Religiöse eher von Dogmen. Religiöse geben oder helfen, so vermuten die
Psychologen, oft nur, weil Gott es vorschreibt oder erwartet. Dagegen würden Atheisten häufiger von spontanem Mitgefühl zur Hilfe animiert. Die Sozialpsychologen konnten belegen, dass religiöse
Menschen seltener Mitleid gegenüber Mitmenschen zeigen als Atheisten und weniger großzügig sind.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangten DECETY et al. (2015). Ihre Untersuchung zeigt, dass Kinder aus nichtreligiösen Familien eher teilen als religiös erzogene
Kinder. Gleichzeitig zeigen sich die Kinder von Nichtreligiösen toleranter gegenüber dem Fehlverhalten anderer, während religiös erzogene Kinder drakonischere Strafen für Vergehen fordern. Die
Forscher erklären die Ergebnisse damit, dass Religiöse ihren Glauben als moralische Errungenschaft betrachten und damit unbewusst Egoismus und Intoleranz rechtfertigen ("Moral
Licensing").
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, einen Mythos der moralischen Überlegenheit des Atheismus zu schaffen. Unter wenigen Religiösen hatten
viele Christen zu leiden, wie umgekehrt unter wenigen Atheisten unzählige Naturalisten zu leiden hatten. Wir wollen lediglich die von WIDENMEYER kolportierte Mär vom moralischen Bankrott des
Naturalismus als Unsinn entlarven: Religiöse Erziehung ist der moralischen Entwicklung keineswegs dienlicher als eine nichtreligiöse.
WIDENMEYER gefällt sich darin, seitenlang anstößiges Verhalten von Nichtreligiösen anzuführen. Er suggeriert, die naturalistische Orientierung sei die Ursache für
rücksichtsloses Handeln, Machtstreben und Untergrabung der Wahrheit. Dass das Christentum nicht freizusprechen ist von moralischer Verfehlung, weil religiöser Fanatismus Intoleranz und
Glaubenskriege schürt, "übersieht" er notorisch. Sein Argument lautet, solche Beispiele würden lediglich zeigen, dass die Bibel von Menschen missverstanden oder missachtet worden sei. Kann dieser
Einwand überzeugen?
Der liberale Bischof
John SPONG (2007) stellt mit verstörender Deutlichkeit fest: Wer seine Moral auf den Wortlaut der Bibel gründet, der hat sie entweder nicht gelesen oder nicht verstanden! "Ich musste", so SPONG
ernüchtert,
"… dazu kommen zu erkennen, dass die Bibel oft selbst ihr eigener Feind war. Ich entdeckte, dass die Bibel sich immer wieder mit ihren eigenen Worten verdammte."
Wie kam der fromme Gelehrte zu dieser Einsicht?
Wenn gefragt wird, durch welche Werte sich das Christentum auszeichnet, werden am häufigsten die zehn Gebote, die Vergebung der Sünden und die Gebote der
Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Nächstenliebe erwähnt. Doch damit ist der Moral- und Verhaltenskodex der Bibel keineswegs erschöpfend beschrieben. Wer ihren Inhalt als
verbindliches, unteilbares Wort Gottes und Quell objektiver Moral deutet, muss das komplette Bündel archaischer Handlungsanweisungen als moralisch verpflichtend
ansehen, angefangen mit der restriktiven Sexualethik, über die Unterdrückung der Frau (1 Kor 14, 34–35, 1 Tim 2, 11–12) bis hin zur Blutrache (Maxime der Talion in Ex
21, 12–14.23–25).
BUGGLE (2004) analysiert unzählige Bibelstellen, welche die Funktionsträger der Amtskirchen in ihrer Zahl und Bedeutung herunterspielen, human umdeuten oder
verschweigen. So stellt die "Heilige Schrift" Jahwe keineswegs als liebenswürdigen Gott dar. Vielmehr portraitiert sie einen intoleranten, erbarmungslosen und blutrünstigen Kriegsherren, der
Menschen "verstockt" macht, um sie mit drakonischen Strafen zu schlagen, der ganze Städte exekutiert, um seinen Blutdurst zu stillen, der Frauen, Kinder und Säuglinge für Vergehen Einzelner
niedermetzelt, Menschen mit Lepra und Pest straft, sich am Rauch verbrannter Tiere ergötzt und von seinen Geschöpfen Sühneopfer fordert, um sich besänftigen zu lassen.
In beklemmender Weise erinnern verschiedene Passagen der Bibel an den Nationalsozialismus: Unfruchtbare und Behinderte sind dem lieben Gott zuwider und werden
ausgegrenzt (3 Mose 21, 16–23). Die Nachkommen von "Mischlingen" werden bis in die zehnte Generation verdammt (5 Mose 23, 2–3). Nach der Landnahme Kanaans, die das 5. Buch
Mose beschreibt, forderte der Herr den Genozid, um ethnische Durchmischung zu vermeiden. Auch einen technischen Aspekt des Holocausts nimmt die "Heilige Schrift" vorweg, das Verbrennen
von Menschen (2 Sam 12, 31). Nach 1945 fiel diese Stelle allerdings dem Korrekturstift zum Opfer.[8]
Grausam springt der Herr auch mit Ungläubigen um. Was er tun werde, sobald sein Reich auf Erden errichtet sei, stellte sich der Prophet Jesaja blutrünstig und
erbarmungslos vor. "Ihre Erschlagenen sollen hingeworfen werden und der Gestank ihrer Leichname aufsteigen, und die Berge werden von ihrem Blut triefen" (Jes 34, 3–8). Wer glaubt
ernsthaft, dass eine solche Schrift, wörtlich genommen, ein Leuchtturm in der moralischen Finsternis sei? Hat nicht der humane Theologe SPONG (2007) Recht, wenn er
schreibt:
"In der Bibel finden sich … nicht nur Irrtümer und Widersprüche, sondern auch schreckliche und hasserfüllte Texte. Es gibt sie: die Sünden der 'Heiligen Schrift'"?
Um diesen Konflikt zu lösen empfiehlt der Autor, die Bibel nicht wörtlich zu nehmen, sondern anders zu deuten. Dies ist eine zweifelhafte Methode, wenn sich durch
sie die düstere Botschaft ins Gegenteil verkehrt. Insbesondere WIDENMEYER kann nicht damit kommen, dass das Ungenießbare der Heiligen Schrift metaphorisch zu verstehen sei. Denn für die
Fundamentalisten ist das Wort der Bibel klar und unteilbar. Kein Wunder, dass jene Gesellschaften, welche die Offenbarungstexte noch ernst nehmen und konservativ auslegen, zu den
brutalsten der Welt gehören. Für fast jede Abscheulichkeit, die Menschen einander zufügten, finden sich Vorlagen in Bibel und Koran.
Religionskritik muss
auch die positiven Aspekte im "Neuen Testament" würdigen: den Erlösungsaspekt, die Vergebung der Sünden, das Gebot der Nächstenliebe. BUGGLE (2004) macht jedoch unter Berücksichtigung des
Kontextes klar, dass diese "Positivbeispiele" nicht wesentlich zur moralischen Entlastung des in der Bibel vorgestellten Gottesbildes beitragen. Zum einen ist es, gemessen am "Wort Gottes",
problematisch, das "Alte Testament" zu einem "Vermächtnis zweiter Klasse" herabzustufen.
Zum anderen sind die leuchtenden Beispiele des "Neuen Testaments", denen die liberalen Theologen ihre Argumente entnehmen, in einen äußerst düsteren Strafrahmen
eingebettet. Vor allem aufgrund der Monstrosität der Androhung ewiger Höllenqualen für endliche (oft nichtige) Vergehen übertrifft die Grausamkeit
des "Neue Testaments" die des "Alten Testaments" bei weitem (BUNGE & MAHNER 2004, S. 196). Selbst in die viel gerühmte Bergpredigt findet diese auf infantilen Gewalt- und Machtphantasien
beruhende Strafandrohung Eingang. Der psychische Schaden, den sie anrichtet, kann kaum überschätzt werden. Der Analytiker Tilmann MOSER spricht von Millionen teils schwer ekklesiogen
traumatisierten Kindern (MOSER 1980, S. 22).
In Mt 13, 49–50 spiegelt sich in den Worten SCHMIDT-SALOMONs die "pyromanische Vorstellung von einer sauberen Endlösung der Ungläubigen-Frage" in
einer Art "himmlischem Auschwitz" wieder.[9] Die Engel
werden mit der Selektion an der Himmels-Rampe beauftragt und die in Ungnade Gefallenen in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt.So ist es nicht überraschend, dass die Theologen der Neuzeit
mehr und mehr dazu übergehen, die diabolischen Elemente in der christlichen Heilsbotschaft als Symbolik zu deuten, um das Humane an der christlichen Ethik zu retten.[10] Doch
wer
"… aus der bunten Sammlung von Vorschriften und Anleitungen der christlichen Ethik die Bonbons herauspickt und die ungenießbaren Stücke unbeachtet zurücklässt, kann dies nicht auf Grundlage dieser so widersprüchlichen Ethik [11]selbst tun, sondern muss seine Wahl aufgrund von ihr unabhängiger ethischer Standards treffen. Auch in diesem konkreten Beispiel entfällt also die religiöse Untermauerung von Ethik" (BUNGE & MAHNER 2004, S. 196).
Die PASCAL'sche Wette: Das Argument gegen die Verharmlosung der Höllenandrohung
Es ist eine
Skurrilität sondergleichen, dass WIDENMEYER ausgerechnet den Glauben an die Androhung ewiger Höllenqualen im "Neuen Testament" zu rechtfertigen versucht – eine Abart, für die es im Naturalismus
keine Entsprechung gibt:
"Es ist äußerst töricht und unmoralisch, die Hölle zu verharmlosen oder gar lächerlich zu machen, denn es ist die mit Abstand größtmögliche Katastrophe, die uns treffen kann. Der Umstand, dass der moderne Mensch sich für so aufgeklärt und klug hält, dass er den Gedanken an die Hölle als lächerlich abtut, mindert – von einem logischen Standpunkt aus betrachtet – keineswegs die tatsächliche Gefahr. Dasselbe gilt für denjenigen, der die Gefahr des Verzehrs tödlicher Giftpilze als lächerlich abtut. Es ist völlig irrational, das Risiko der Hölle einzugehen, selbst wenn man der Hoffnung sein sollte, dass die Wahrscheinlichkeit dorthin zu kommen zum Beispiel nur ein Prozent ist. Die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses in die Hölle zu kommen, ist formal das Produkt aus (a) der Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert, (b) der Wahrscheinlichkeit, dass es eine Hölle gibt, wenn Gott existiert, und (c) der Wahrscheinlichkeit, dass Gott einen in die Hölle bringen wird, wenn Gott und die Hölle existieren. Das damit verbundene existenzielle Risiko … ist dieser Wahrscheinlichkeitswert multipliziert mit der Schwere des Ereignisses. Diese Schwere dürfte unendlich groß sein, insofern es sich um zeitlich unbegrenzte Qual handelt" (S. 226f).
Dieses Argument entspricht der berühmten "Wette" des Philosophen Blaise PASCAL, der argumentierte, wer "auf Gott setze", habe in jedem Fall die besseren Karten.
Doch die Argumentation taugt nichts, weil sie auf zweifelhaften Voraussetzungen ruht. WIDENMEYERs Appell an die Angst ist zwar ein wirkungsvolles Manipulationsinstrument, systematisch aber
ein Fehlschluss, weil das existenzielle Risiko, das von einem Szenario ausgeht, nicht von der Dimension des Schreckens abhängt, das es verbreitet. Andernfalls müssten
wir jedem Schauermärchen glauben, das sich Menschen im Lauf der Geschichte ausdachten, um andere gefügig zu machen.
Die Annahme, es existiere ein Christengott, der nur jene belohnt, die an ihn glauben, ist völlig beliebig. Es könnte genauso gut einen nichtchristlichen Gott
geben, der alle Christen wegen ihres Götzendienstes bestraft. Die Wahrscheinlichkeit, dass WIDENMEYER irrt, beträgt unter Voraussetzung des Theismus mindestens 50
Prozent. Sollte es den Gott des Islams geben und sein Counterpart Pierre VOGEL Recht haben, würde WIDENMEYER genauso in der Hölle schmoren, wie die Atheisten.
Auch im Christentum gibt es eine verwirrende Vielfalt von Aussagen darüber, was der Mensch tun, unterlassen oder glauben soll, um der Hölle zu
entgehen. Noch variantenreicher war die frühchristliche Bewegung. Davon zeugen zahlreiche Evangelien aus dem ersten bis dritten Jahrhundert, die nicht in den Bibelkanon übernommen, sondern von
der Kirche als häretisch und unzuverlässig (apokryph) ausgrenzt wurden. Das koptische Philippus-Evangeliumbeispielsweise, eine gnostische Spruchsammlung, legt nahe, dass Jesus
Maria Magdalena zur Gefährtin hatte und sie gegenüber den übrigen Aposteln bevorzugte. Überdies erweisen sich die Reflexionen über die "Hölle" und die "Jungfrauengeburt" als erstaunlich
aufgeklärt:
"Und er [Christus] erlöste die Guten in der Welt ebenso wie die Bösen" (Spruch 9, PhE).
"Das Licht und die Finsternis, das Leben und der Tod, rechts und links sind einander Brüder. Sie sind untrennbar. Deswegen sind weder die Guten gut noch die Schlechten schlecht, noch ist das
Leben ein Leben noch der Tod ein Tod. Deswegen wird sich jeder einzelne auflösen in seinen Ursprung von Anfang an. Die aber erhaben sind über die Welt, sind unauflöslich, sind ewig" (Spruch 10,
PhE).
"Einige sagten: 'Maria ist vom heiligen Geist schwanger geworden.' Sie sind im Irrtum. … Wann ist je eine Frau von einer Frau schwanger geworden? … Und der Herr hätte nicht gesagt: 'Mein Vater,
der im Himmel ist', wenn er nicht noch einen anderen Vater gehabt hätte, sondern er hätte einfach gesagt: 'Mein Vater!'" (Spruch 17, PhE).
Die Gnosis war der Versuch gebildeter Christen, die kirchliche Verkündigung sachlich überzeugender zu gestalten. Erst sie machten die Lehre Christi in die urbanen
Zentren populär (MARKSCHIES 2016). Die Kirche erklärte sie ex cathedra zur Häresie, obwohl sich die Trennschärfe zur Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie, in Abgrenzung
von Großkirche und Gnosis, erst nach Jahrhunderten herausbildete und entsprechend problematisch ist. So dürften sich die als "häretisch" eingestuften gnostischen Gemeinden anfangs nicht als vom
"übrigen" Christentum verschieden betrachtet haben. Sie wurden ausgegrenzt, als es galt, die "großkirchliche Autorität" zu festigen.
Ob Häresie oder nicht: Jeder Religiöse muss sich für eine Glaubensvariante entscheiden, von der er nicht weiß, ob sie die wahre (gottgefällige)
ist. So reduziert sich WIDENMEYERs "logischer Standpunkt" auf ein geistiges Roulette- und Ratespiel mit geringer Aussicht auf Erfolg. Die Atheisten können ihre Position
verstandesmäßig begründen, WIDENMEYER kann nur auf ein sehr spezielles Dogma setzen.
Schenken wir dem indischen Morallehrer GANDHI Glauben, schert sich Gott nicht um Religionen.
Warum sollte sich ein solcher Gott um Lippenbekenntnisse und unreflektierten Bibel-Glauben scheren? Genauso gut könnte er seinen Lohn von guten
Taten sowie von der Liebe zur Wahrheit und zum Verstand abhängig machen, den er seinen Kreaturen schenkte. Naturalisten legen besonderen Wert auf Ehrlichkeit im Argumentieren, auf
logische Werte wie Konsistenz und Zirkelfreiheit, auf kritisches Denken, Ergebnisoffenheit und die freie Suche nach Wahrheit, die nicht durch Anerkennung von Dogmen oder Autoritäten
beeinträchtigt wird.
Warum sollte ein überlegenes Wesen nicht diese Werte belohnen, sondern den Glauben an archaische Schriften, die im Widerspruch zu einem
Großteil des naturwissenschaftlichen Wissens stehen, sich oft selbst widersprechen und dem höchsten Wesen alles andere als einen guten Leumund ausstellen?
Einer von EPIKURs Hauptlehrsätzen, überliefert von Diogenes LAERTIOS, lautet:
"Ein seliges und unvergängliches Wesen (die Gottheit) trägt weder selbst Mühsal, noch belädt es ein anderes Wesen damit. Darum kennt es weder Zorn noch Wohlwollen. Dergleichen gibt es nur
bei einem schwachen Wesen."
Daran gemessen ist WIDENMEYERs Gott extrem schwach! Humanisten und aufgeklärte Christen können den Versuch einer moralischen Rechtfertigung dieses Gottesbildes nur als grobe Beleidigung des
Intellekts auffassen.
Ein barmherziger und logisch denkender Gott würde erkennen, dass Menschen nicht gegen ihre Überzeugungen an etwas glauben können. Das
wäre ein Widerspruch in sich. Somit würde er ein Leben, das niemandem Schaden zufügt und von Mitleid und Empathie geprägt ist, ungleich höher einstufen als die eventuell empfundene
"Majestätsbeleidung" angesichts des Negierens der Existenz Gottes. Und wenn nicht? Dann hätte die gesamte Menschheit Pech: Der Willkür eines Gottes ist es freigestellt, in die Hölle zu werfen,
wen er möchte. Auch WIDENMEYER wäre nicht dagegen gefeit, wenngleich er in seiner Hybris glaubt, Gottes Gedanken zu kennen.
Nicht
der Naturalismus steht im Gegensatz zur strikten Glaubensethik des Autors, sondern jedwede Religion und Ontologie, die von einer autonomen Moralbegründung ausgeht. Auch
christliche Moraltheologen haben erkannt, dass religiöse Kontexte keine argumentative Voraussetzung der moralischen Urteilsfindung sind.
Glaubensethiker stehen vor einem unauflöslichen Dilemma: Wenn nur Gott darüber bestimmen kann und darf, worin der Unterschied zwischen Gut und Böse liegt, wären
Gottes Befehle per Definition gut. Die Ethik als philosophische Disziplin würde sich auflösen, wir könnten einen guten Gott nicht von
einem bösartigen Gott oder Teufel unterscheiden. Die Aussage, Gott sei gut, wäre sinnlos, weil tautologisch. Hält der Christ aber an dieser Aussage fest, haben Gut und Böse eine
von Gott unabhängige Bedeutung, die auch ein Atheist erkennen kann.
Das Aufzeigen einer von Gott unabhängigen Bedeutung von moralisch Richtig und Falsch, Gut und Böse ist die Aufgabe naturalistisch-humanistischer Ethiken. Auch die
autonomen Ansätze der christlichen Moraltheologie verfolgen dieses Ziel. Entgegen WIDENMEYER folgt aus dem Verzicht auf die Objektivitätsannahme in der Moral keineswegs Willkür und
Irrationalität. Vielmehr geht die Abkehr vom Wertabsolutismus mit der Hinwendung zum sozialpragmatischen Kriterium des Wohlergehens aller Personen Hand in Hand. Während
religiös-fundamentalistische Moralvorstellungen aufgrund ihrer apriorischen Setzung oft an menschlichen Bedürfnissen "vorbei normieren", orientieren sich humanistische Ethiken an dem, was den
Menschen nützt. Überkommene paternalistische Familienbilder und Rechtsvorstellungen sind ebenso passé wie restriktive Sexualvorgaben und der Zwang zu Askese und
Selbstkasteiung.
Jene Länder, in denen die Menschen Religion fanatisch leben, zählen zu den unfreiesten und konfliktreichsten. Das kommt nicht von ungefähr: Die "Heiligen Bücher"
sind voll mit blutrünstigen Passagen, die ein infantiles, grausam-diabolisches Gottesbild portraitieren. Humane Theologen sprechen von "Sünden der Heiligen Schrift". Sie argumentieren, nur das
Hehre daran sei göttlich, das Unverdauliche menschliche Zutat. So picken sich Christen heute die Rosinen aus der christlichen Ethik heraus. Doch bis in die Neuzeit nahmen Menschen dieses
Gottesbild bitterernst. Moderne Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte und die Gleichstellung von Mann und Frau mussten gegen die "Heiligen Bücher" erstritten
werden.
"Dies ist der Gipfel des
Monströsen und Lächerlichen, Gott als einen kleinlichen, unsinnigen und barbarischen Despoten zu verkünden, der einigen seiner Favoriten heimlich ein unverständliches Gesetz mitteilt und die
übrigen des Volkes umbringt, weil sie dieses Gesetz nicht gekannt haben."
- VOLTAIRE (1694–1778) über Ex 31–34
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bibeltexte_zur_Homosexualität
[2] Genaugenommen ist der Konjunktiv fehl am Platze, vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Bann_(Bibel)
[3] Das Fatale an WIDENMEYERs Argumentation ist, dass sie (ungewollt) dem islamistischen Terrorismus Tür und Tor
öffnet. Denn wenn Menschen die "moralische Autorität" "absoluter Personen" nicht infrage stellen dürfen, kann der Autor der mörderischen Philosophie der Dschihadisten nichts Rationales
entgegensetzen! Er kann nur wertfrei konstatieren, dass sein Gottesbild mit dem ihrigen unvereinbar ist.
[4] Da es, wie erörtert, kein absolutes, objektivierbares Kriterium für moralische Richtigkeit gibt, sind auch die
Goldene Regel und der Kategorische Imperativ kritisierbar. George Berhard SHAW soll sie mit den ironischen Worten kommentiert haben: "Behandele andere nicht wie Du möchtest, dass
sie Dich behandeln. Ihr Geschmack könnte nicht derselbe sein" (https://de.wikipedia.org/wiki/Goldene_Regel).
Letztlich sind nur ethische Rechtfertigungen relativer Art möglich: Die Goldene Regel
und der kategorische Imperativ sind "gute Maßstäbe" im Vergleich zu anderen Regeln, sofern das Interesse und Wohlergehen möglichst vieler Menschen im Zentrum der Ethik steht.
Doch sie sind von Fall zu Fall zu kritisieren, einzuschränken und zu verbessern. So reformuliert der Wissenschaftstheoretiker Karl POPPER die Goldene Regel zur Platinregel, die
fordert, dass "man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen".
[5] Beeindruckt von der Forderung nach empirischer Nachvollziehbarkeit und Rationalität seitens der Pirahãs verlor
EVERETT im Lauf von Jahren seinen Glauben und wurde Atheist.
[6] Wer annimmt, das Leben sei durch Gott erschaffen worden, muss daher zugestehen, dass er uns die
negativen Emotionen (Zorn, Aggressivität, Missgunst, Hass, Gier etc.) mit in die Wiege legte. So gesehen wäre "das Böse" und der Keim aller kriegerischen Auseinandersetzungen integraler
Bestandteil der Schöpfungsordnung (Theodizee-Problem).
[7] Beispielsweise wurde die Maßnahme der Sterilisation zur gefahrlosen Beseitigung von "Schwachsinnigen" aus dem
deutschen "Volkskörper" lange vor der Machtergreifung der Nazis von Theologen der Diakonie ausdrücklich befürwortet. Auf der Evangelischen "Fachkonferenz für Eugenik" am 18.-20. Mai 1931 in
Treysa ließ der Pastor Friedrich VON BODELSCHWINGH, Leiter der größten deutschen "Irrenanstalt", im Protokoll vermerken (zit. nach LEHMANN & STASTNY 2007, S. 19):
"Im Dienst des Königreichs Gottes haben wir unseren Leib bekommen. ... 'Das Auge, das mich zum Bösen verführt usw.' zeigt, dass die von Gott gegebenen Funktionen des Leibes in absolutem Gehorsam zu stehen haben, wenn sie zum Bösen führen und zur Zerstörung des Königreiches Gottes in diesem oder jenem Glied, dass dann die Möglichkeit oder Pflicht besteht, dass eine Eliminierung stattfindet. Deshalb würde es mich ängstlich stimmen, wenn die Sterilisierung nur aus einer Notlage heraus anerkannt würde. Ich möchte es als Pflicht und mit dem Willen Jesu konform ansehen [sic!]."
Bereits im Jahresbericht 1928/29 des diakonischen Kinder- und Pflegeheims Vorwerk in Lübeck war zum Thema Rassenhygiene Folgendes zu lesen (zit.
nach STROHM & THIERFELDER 1990, S. 186):
"Eugenik, Rassenhygiene, Bewahrungsgesetz, ein Akkord, der weit, weit stärker tönen muss, als er bisher erklingt, der unser Volksleben beeinflussen muss in bestimmendster Weise. Forderungen sind es, die ein Volk aus vitalsten Interessen erheben muss, mit größtem, mit tiefstem Ernst."
[8] Ursprünglich stand in der Lutherbibel (1912): "Aber das Volk drinnen führte er [David] heraus und
legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen". Nach dem Schrecken des Holocausts wirkte die Passage so befremdlich, dass sie umgeschrieben
wurde. So lesen wir heute an dieser Stelle: "Aber das Volk darin führte er heraus und stellte sie als Fronarbeiter an die Sägen, die eisernen Pickel und an die eisernen Äxte und ließ sie
an den Ziegelöfen arbeiten" (Lutherbibel 2017). Aus Mord wird kurzerhand Fronarbeit! Dieses und weitere Beispiele der bewussten Verfälschung des "Wort Gottes" zeigen, dass es offenbar nur
bedingt als Quell moralischer Inspiration taugt.
[9] http://www.youtube.com/watch?v=GXC-lItaRBU&t=200s
[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Heulen_und_Zähneklappern#Neuzeit
Siehe auch Eugen DREWERMANN über die "Hölle": http://www.youtube.com/watch?v=NE7_Fhq0B44
[11] Einige der recht zahlreichen widersprüchlichen Aussagen, Fehler und unerfüllten Prophezeiungen aus der
Bibel führt beispielsweise THOMA (2011) an.
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Gastbeitrag von: Martin Neukamm (Buch)
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