„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Du mit deinen Daten!

Ein wiederkehrendes Muster in weltanschaulichen Debatten:

1.    Anton bedauert einen gesellschaftlichen Zustand, etwa den Anstieg der Kriminalität durch Zuwanderung.

2.    Berta wirft ihm ein charakterliches Defizit vor, in diesem Fall Rassismus.

3.    Anton liefert Zahlen, die den gesellschaftlichen Zustand belegen.

4.    Berta zieht deren Gültigkeit in Zweifel.

5.    Anton weist die Plausibilität der Daten nach.

6.    Berta wechselt das Thema und erhebt einen neuen Vorwurf gegen Anton, zum Beispiel einen Mangel an Herzensbildung.

Dieses Muster begegnet mir regelmäßig, bis hin zu einem expliziten „Deine Daten interessieren mich nicht, denn du greifst meine Freunde an.“ An dieser Stelle möchte ich eine Hypothese wagen, was hier los ist.

Anton setzt die Daten primär, er gewichtet sie höher als seine persönliche Erfahrung. Daraus resultiert sein Unbehagen.

Für Berta ist ihre persönliche Erfahrung der archimedische Punkt. Sie vermutet, oft zu Recht, dass Anton ähnliche Erfahrungen macht wie sie und deutet deshalb seine abweichende Haltung als Ergebnis einer intrinsischen Charaktereigenschaft Antons, die ihn überhaupt erst veranlasst, Zahlen hervorzuwühlen, die seine Ansicht belegen.

Denn aus Bertas Sicht findet man genau die Daten, die man sucht.

Nun ist theoretisch denkbar, dass wir in einer Welt leben, in der das der Fall ist. Ich will sogar zugestehen, dass es tatsächlich bis zu einem gewissen Grad so ist. Dann aber könnte Berta ihre Zahlen präsentieren, die denen Antons widersprechen.

Das allerdings geschieht praktisch nie.

Es hätte aus Bertas Sicht auch keinen Sinn, weil es bestenfalls zu einer Pattsituation führen würde, denn sie geht ja davon aus, dass man genau die Daten findet, die man sucht. Aus ihrer Perspektive fallen die Daten beider Parteien aus der Argumentation heraus; übrig bleiben nur Charaktereigenschaften und aus ihnen resultierende Motive. Und jetzt sind wir nah an „Gut“ versus „Böse“.

Da ich meine Pappenheimer kenne, die übliche Klausel: Ich hänge nicht dem naiven Realismus an. Selbstverständlich (haha!) gibt es keine Daten an sich, die interpretationsfrei für sich sprächen. Jede Betrachtung von Daten unterliegt einer Hypothese, jede Hypothese unterliegt Wünschen; der häufigste Wunsch lautet: „Ich will hier mit Gewinn oder wenigstens ungeschoren rauskommen.“

Es folgen ein paar Suchbegriffe für Wikipedia: Bestätigungsfehler [1], Rückschaufehler [2], Self-Justification [3], eskalierendes Commitment [4], Status-quo-Verzerrung [5], Ankereffekt [6], Attributionsfehler [7]. Es lohnt sich, sie nachzuschlagen; wir unterliegen all diesen Wahrnehmungsverzerrungen.

Hinzufügen möchte ich, aus eigener Feder, die binäre Verzerrung; sie nenne ich gern „alles oder nichts“-Falle. Menschen müssen kategorisieren, um ihrer Sinnesdaten Herr zu werden, und in grauer Vorzeit musste dieses Einteilen in Schubladen oftmals schnell gehen, weil überlebenswichtig.

Die am schnellsten zu erlangende, kleinstmöglich sinnvolle Anzahl Kategorien? Zwei. Gefährlich-harmlos, giftig-nahrhaft, kalt-warm, böse-gut. Der erste, schnellste, intuitive Ansatz des Unterscheidens ist ein Holzschnitt, der nur Schwarz und Weiß zeigt. Natürlich kommt man damit nicht weit, und das weiß eigentlich jeder. Nur vergisst er es, wenn er sich aufregt oder wenn das Vergessen gerade opportun scheint.

Angesichts der (ahem) Tatsache, dass Daten nicht für sich stehen können, sondern immer interpretiert werden müssen, lautet ein Spezialfall der binären Verzerrung:

„Daten Scheiße. Interpretation ist alles.“

Ihn nenne ich den postmodernen Schuss in den Ofen. Er mag so manche diskursive Wirrnis erklären. Aber vielleicht habe ich unrecht – dann hätte ich gern Daten.

Gastbeitrag von: Harald Grundner

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