„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Digitales Nomadentum oder Akademische Karriere?

Ich plane gerade nach dem Masterabschluss in Lateinamerika als selbstständiger Digitaler Nomade tätig zu werden. Das ist auch eine Entscheidung gegen eine akademische Karriere, die mir alles andere als leicht fällt, aber richtig vorkommt.

Wenn man vor der Wahl steht zu promovieren und sich danach an einer wissenschaftlichen Karriere zu versuchen, kann man sich zwei Fragen stellen:

(1) Kann ich das?
(2) Will ich das?

Die erste Frage kann ich für mich nicht beantworten. Meine Dozenten hier haben mir aber zugesagt, dass wenn einer das Zeug zum Philosophen besitzt, dann ich. So oder so würde in meinem Naturell liegen, mich einfach an einer akademischen Karriere zu versuchen, wenn ich die zweite Frage für mich mit "Ja" beantworten kann. Wie also stehe ich zur zweiten Frage? Ich denke es ist allgemein vernünftig über das Leben auch in Kategorien von Opportunitätskosten zu denken. Das heißt wenn man vor einer Frage der Form "Will ich A?" steht, sollte man sich darüber gewahr werden, dass die entscheidende Frage eigentlich wie folgt lautet:

(2a) Will ich A, auch angesichts dessen, dass ich dann graduell weniger Zeit und Kraft für B, C, D, E … haben werde?

Was meine ich damit? Man kann sich das Leben vielleicht als einen See vorstellen. Da die Zeit in diesem See sehr begrenzt ist, steht man vor einer sehr grundsätzlichen Wahl: Entweder man schwimmt überall mal hin, lernt viele verschiedene Facetten des Lebens kennen, probiert alles mal aus, und nimmt dafür in Kauf, dass man nirgends richtig tief eintaucht. Oder man taucht an einer Stelle richtig tief, wird in einer Sache so richtig gut und nimmt dafür die Opportunitätskosten in Kauf, dass man für andere Dinge nicht so viel Zeit und Kraft aufbringen kann. Es mag viele Grautöne zwischen diesen beiden Extrem-en geben, aber vor gewissen Trade-Offs dieser Art stellt uns das Leben immerzu.

Diese Zielkonflikte stellen sich dann in ganz verschiedenen Lebensbereichen. Ein Bereich ist der des Zwischenmenschlichen. Hier liebe ich es zu tauchen: Eine tiefgehende zwischenmenschliche Beziehung ist mir mehr wert als tausend oberflächliche Bekanntschaften. Ein anderer ist der der Professionalitäten.

Es gibt allgemeine Gründe dafür in diesem Bereich eher zu tauchen oder eher zu schwimmen. Einen Grund eher zu schwimmen finden wir, wenn wir uns zwei weitere wirtschaftswissenschaftliche Konzepte anschauen: Nach dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens nimmt der Nutzen einer Investition in ein Gut mit jeder zusätzlichen Einheit kontinuierlich ab. Der Nutzen eines ersten Brötchens für einen hungrigen Menschen ist beispielsweise noch sehr hoch, nimmt mit jedem zusätzlichen investierten Brötchen aber kontinuierlich ab. Und der Genuss einer ersten Million auf dem Konto ist noch sehr hoch, aber auch dieser nimmt ab.

Dieses Gesetz lässt sich auch auf den Bereich der Professionalitäten übertragen. Wenn ich etwa einige Jahre darauf verwende, um sagen wir die Grundaussagen von Immanuel Kant oder die der Quantenphysik zu verstehen, dann ist der Nutzen noch sehr hoch. Wenn ich aber bereits sehr gut auf einem dieser Gebiete bin und es noch ein bisschen mehr verstehen will, dann muss ich sehr viel mehr Aufwand investieren, um ein wenig Erkenntnismehrwert zu erzielen:

Flominator (CC BY-SA 2.5)
Flominator (CC BY-SA 2.5)

Dieses Gesetz drückt sich auch im Paretoprinzip aus. Das Paretoprinzip besagt, dass 80% der Ergebnisse mit 20% des Gesamtaufwands erreicht werden. Hieraus kann man ein Argument im Bereich des Professionellen formulieren: Wenn man eher Generalist als Spezialist wird, dann kann ich mit dem gleichen Aufwand insgesamt mehr Lernen. Kombinieren wir jetzt das Konzept der Opportunitätskosten mit dem ersten Gossenschen Gesetz, dann erhalten wir einen Grund für meine Entscheidung gegen eine akademische Karriere.

Jeder muss für sich selbst wissen und Gründe abwägen. Aber vielleicht für den ein oder anderen interessant.

Eine akademische Karriere ist mit hohen Opportunitätskosten verbundenDaher kann ich zwar die Frage (2) hinsichtlich einer akademischen Karriere für mich mit "Ja" beantworten, aber nicht die entscheidende Frage (2a). Wenn ich mehrere Leben hätte, würde ich ein sehr schönes davon nur der Philosophie widmen und schauen wie weit ich es im akademischen Betrieb schaffe. Da ich aber nur ein Leben habe, möchte ich in diesem lieber ein Schwimmer als ein Taucher sein.

Das Digitale Nomadentum bietet eine perfekte Grundlage für ein Leben als Taucher. Ich möchte die DFG anfragen, ob es Forscherteams gibt, die einen Packesel oder Übersetzer brauchen und dann mit Biologen durch den Amazonas und mit Geologen über die Anden wandernMeine Erfahrung ist, dass von zehn solchen Versuchen neun fehlschlagen, aber der eine zu einem unvergesslichen Erlebnis führt. Deshalb sollte man einfach viel ausprobieren und versuchen.

Ich möchte auch mit einer schönen Latina am Strand tanzen. Tagsüber wild und ausgelassen. Abends langsam und zärtlich während eines Sonnenuntergangs. Und ich möchte so viel mehr machen, dass ich gerade noch gar nicht auf dem Schirm habe, das aber zu so viel schönen Momenten und Geschichten führt.

Der Philosoph Odo Marquard hat hierzu einmal sehr pointiert gesagt:

„Eine Geschichte ist das, was sich ereignet, wenn etwas dazwischen kommt.“
- Odo Marquard

Mein Eindruck ist, dass das Arbeiten im akademischen System häufig so zeitintensiv ist, dass es nicht viel Platz für Neues oder Unerwartetes lässt. Es ist wichtig für unsere Gesellschaft, dass es Taucher gibt und viele Leute scheinen akademischen System auch regelrecht aufzugehen. Aber ich würde in diesem aus den genannten Gründen nicht das beste aller meiner möglichen Leben führen.

Auf einer allgemeineren Ebene bin ich der Überzeugung, dass das Leben in Deutschland aufgrund der Digitalisierung und in Folge von Corona noch steriler, isolierter, vorhersagbarer werden wird. Das muss ich nicht erlebt haben.

Die folgenden Faktoren machen die Entscheidung für mich leichter:

(a) Die Lebensunterhaltungskosten in Lateinamerika sind sehr niedrig, in meinem Jahr in Panama und den drei Monaten in Peru konnte ich mit 400€ - 500€ / Monat akzeptabel leben.
(b) Das Durchschnittseinkommen eines Webentwicklers liegt bei 4.000€ brutto und ich habe den Anspruch an mich selbst bald besser als der Durchschnitt zu sein.

(c) Zudem profitiere ich vom Wechselkurs ("geo-arbitrage"), da ich in Dollar oder Euro bezahlt werde und mein Geld in einheimischer Währung ausgebe.

(d) Ohne festen Wohnsitz in Deutschland bin ich hier nur bedingt steuerpflichtig.

(e) Ich brauche nicht viel Geld, insbesondere keinen materiellen Wohlstand, um glücklich zu sein. Wenn ich Geld für schöne Erlebnisse habe, beim Einkaufen nicht jeden Peso umdrehen und keine Angst vor Altersarmut haben muss, reicht mir das aus.

Wenn man all diese Faktoren zusammennimmt, dann ist es nicht unrealistisch, dass ich auf Dauer nicht allzu viel arbeiten und diese Ziele verwirklichen kann:

(i) einen großen Anteil meines Einkommens spenden ("earning to give") und mein Engagement für den Effektiven Altruismus allgemein weiter ausbauen.
(ii) Zeit für die Philosophie als nach wie vor eine große Leidenschaft von mir haben.

(iii) Zeit für schöne Eindrücke und Erlebnisse mit Mensch und Natur jenseits von Beruf und Philosophie finden.

Man kann dies auch so formulieren: Geld an sich und vor allem materieller Wohlstand sind mir unwichtig. Aber Geld ist ein universelles Tauschmittel und verschafft einem damit erstens Freiheit und zweitens Macht. Zum einen verschafft Geld negative Freiheit vor vielen Sorgen und zum anderen positive Freiheit zu vielen Möglichkeiten. Die große Lüge des Neoliberalismus lautet, dass jeder reich werden kann, wenn er sich nur anstrengt. Eine Krankenpflegerin kann sich noch so anstrengen, sie wird viele finanzielle Möglichkeiten nie haben und einige Nöte nie loswerden. Geld kann dir Sorgen nehmen und Chancen geben.

Ein Sprichwort sagt, Geld regiert die Welt. Wenn das stimmt, und da ist sicherlich Einiges dran, dann ist eine Möglichkeit die Welt zu verbessern Geld zu besitzen. Geld kommt mit der Macht einher es mit Herz und Hirn zu spenden und damit soziale Missstände oder existentielle Risiken wie den Klimawandel zu bekämpfen.

Das alles wird viel schwieriger werden als es in diesem Eintrag den Anschein hat. Versteckte Kosten und unerwartete Probleme werden auftauchen. Aber es sind großartige Ziele, für die ich bereit bin, sehr viel Zeit und Kraft zu investieren.

Auch die Ziele oben konfligieren erneut. Wenn ich beispielsweise viel arbeite um viel zu spenden, finde ich ceteris paribus weniger Zeit für die Ziele (i) und (ii) und umgekehrt. Ich denke derzeit nicht viel über diese Zielkonflikte nach. Denn es ist wichtig, dass man allgemein seine Ziele und Werte kennt und dann kommt das Leben sowieso anders als man denkt. Das heißt die Lebensentwicklung ist kontingent und man schaut spontan wie man seine Ziele am besten umsetzt.

Das Leben kommt mir dabei zu kurz geraten vor. Es gibt so viele Gedanken, die ich denken; so viele Gefühle, die ich fühlen; so viele weitere Dinge, die ich tun möchte, dass das alles nicht in ein Leben reinpasst. Aber das hat auch eine positive Seite. Da das Leben begrenzt und facettenreich ist, sollten wir bewusst Prioritäten setzen. Wenn ich mir für eine Sache oder Person Zeit nehme, bedeutet das daher, dass sie mir wichtig ist: Ich gebe ihr ein Teil meines Lebens.

Gerade sitze ich noch an meiner Abschlussarbeit. In diesem Jahr schließe ich ein Kapitel meines Lebens ab, in dem ich sehr viel lernen durfte. Nächstes Jahr fängt dann ein ganz anderes Kapitel an, in dem ich fremde Kulturen, Orte und Menschen kennen lernen und in mein Herz schließen kann. Dieses Jahr lebe ich wie ein Akademiker, nächstes Jahr wie ein Abenteurer, es ist schön und ich bin sehr dankbar, so viele verschiedene Facetten des Lebens kennenlernen zu dürfen.

Wenn wir darüber nachdenken, ob der eigene Tod ein Übel ist, hilft es uns auch in Kategorien von Opportunitätskosten zu denken. So wie uns eine einnehmende Professionalität die Dinge rauben kann, die wir hätten, wenn wir dieser Professionalität nicht nachgehen würden; so nimmt uns der Tod die Dinge, die wir hätten, wenn wir nicht tot wären. Deshalb ist der Tod für einen 14-jährigen Jungen, der noch nie geliebt hat, der so vieles im Leben vor hatte, auch ein großes Übel. Für eine 100-jährige Dame, die in ihrem Leben viel gelacht und geliebt hat, die das im Leben machen konnte, was sie eigentlich machen wollte und für die sich das eigene Leben im Nachhinein "rund" anfühlt, ist der eigene Tod aber vielleicht gar kein Übel. Ich kann die Länge meines Lebens nicht bestimmen, mache ein langes Leben durch gesunde Ernährung und viel Sport jedoch statistisch wahrscheinlicher. Aber ich kann in einem bestimmten Rahmen den Inhalt meines Lebens gestalten. Und das Nomadendasein schafft mir - um frei mit Immanuel Kant zu schließen - Bedingungen der Möglichkeit für ein Leben, nach dem der Tod kein Übel mehr ist. Leben lernen, heißt Sterben lernen.

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