„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Erich Fromm. Haben oder Sein (Zitatesammlung)

Miteinander sprechen:
„Bei einem Gespräch, das nicht als Debatte gedacht ist, verhält sich die Sache etwas anders. Wer hat nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, mit einem Menschen zusammenzutreffen, der bekannt oder berühmt oder auch durch persönliche Qualitäten ausgezeichnet ist, oder einem Menschen, von dem man einen guten Job oder Liebe oder Bewunderung erwartet? Viele sind unter diesen Umständen nervös oder ängstlich und bereiten sich auf die wichtige Begegnung vor. Sie überlegen sich, welche Themen den anderen interessieren könnten, sie planen im Voraus die Eröffnung des Gesprächs, manche skizzieren die ganze Unterredung, soweit es ihren Part betrifft. Mancher macht sich vielleicht Mut, indem er sich vor Augen hält, was er alles hat: seine früheren Erfolge; sein charmantes Wesen (oder seine Fähigkeit, andere einzuschüchtern, falls dies mehr Erfolg verspricht), seine gesellschaftliche Stellung, seine Beziehungen, sein Aussehen und seine Kleidung. Mit einem Wort, er veranschlagt im Geiste seinen Wert, und darauf gestützt bietet er nun im Gespräch seine Waren an. Wenn er dies sehr geschickt macht, wird er in der Tat viele Leute beeindrucken, obwohl dies nur zum Teil seinem Auftreten und weit mehr der mangelnden Urteilsfähigkeit der meisten Menschen zuzuschreiben ist. Der weniger Raffinierte wird mit seiner Darbietung nur geringes Interesse erwecken; er wird hölzern, unnatürlich und langweilig wirken.

Im Gegensatz dazu steht die Haltung des Menschen, der nichts vorbereitet und sich nicht aufplustert, sondern spontan und produktiv reagiert. Ein solcher Mensch vergisst sich selbst, sein Wissen, seine Position; sein Ich steht ihm nicht im Wege; und aus genau diesem Grund kann er sich voll auf den anderen und dessen Ideen einstellen. Er gebiert neue Ideen, weil er nichts festzuhalten trachtet. […]

Während sich der "Habenmensch" auf das verlässt, was er hat, vertraut der "Seinsmensch" auf die Tatsache, dass er ist, dass er lebendig ist uns das etwas Neues entstehen wird, wenn er nur den Mut hat, loszulassen und zu antworten. Er wirkt im Gespräch lebendig, weil er sich selbst nicht durch ängstliches Pochen auf das, was er hat, erstickt. Seine Lebendigkeit ist ansteckend, und der andere kann dadurch häufig seine Egozentrik überwinden. Die Unterhaltung hört auf, ein Austausch von Waren (Informationen, Wissen, Status) zu sein, und wird zu einem Dialog, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer Recht hat. Die Duellanten beginnen, miteinander zu tanzen, und sie trennen sich nicht im Gefühl des Triumphs oder der Niederlage, was beides gleich furchtlos ist, sondern voller Freude.“
- Erich Fromm. Haben oder Sein, S. 50 – 51.

Autorität ausüben:
"Ein weiteres Beispiel für den Unterschied der Existenzweisen des Habens und des Seins ist das Ausüben von Autorität. Der springende Punkt ist, ob man Autorität 'hat' oder eine Autorität 'ist'. [...] Autorität, die im Sein gründet, basiert nicht nur auf der Fähigkeit, bestimmte gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen, sondern gleichermaßen auf der Persönlichkeit eines Menschen, der ein hohes Maß an Selbstverwirklichung und Integration erreicht hat. Ein solcher Mensch strahlt Autorität aus, ohne Drohen, Bestechen oder Befehlen zu müssen; es handelt sich einfach um ein hochentwickeltes Individuum; das durch das, was es ist - und nicht nur, was es tut oder sagt -, demonstriert, was der Mensch sein kann. Die großen Meister des Lebens waren solche Autoritäten, und in geringerer Vollkommenheit sind sie unter Menschen aller Bildungsgrade und der verschiedensten Kulturen zu finden. Das Kind reagiert sehr willig auf diese Seinsautorität, da es sie braucht; es rebelliert dagegen, von Leuten gezwungen oder vernachlässigt zu werden, die erkennen lassen, dass sie selbst nicht geleistet haben, was sie vom heranwachsenden Kind verlangen.“
- ebd., S. 53ff.

Eheschließung:
„Häufig ändert sich mit der Eheschließung die Situation grundlegend. Der Ehevertrag gibt beiden das exklusive Besitzrecht auf den Körper, die Gefühle, die Zuwendung des anderen. Niemand muss mehr gewonnen werden, denn die Liebe ist zu etwas geworden, was man hat, zu einem Besitz. Die beiden lassen in ihrem Bemühen nach, liebenswert zu sein und Liebe zu erwecken, sie werden langweilig, und ihre Schönheit schwindet. Sie sind enttäuscht und ratlos. Sind sie nicht mehr dieselben? Haben sie von Anfang an einen Fehler gemacht? Gewöhnlich suchen sie die Ursache der Veränderung beim anderen und fühlen sich betrogen. Was sie nicht begreifen, ist, dass sie beide nicht mehr die Menschen sind, die sie waren, als sie sich ineinander verliebten; dass der Irrtum, man könne Liebe 'haben', sie dazu verleitete, aufzuhören, zu lieben. [...] In anderen Fällen sehnen sich die Beteiligten weiterhin nach dem Wiedererwachen ihrer früheren Gefühle; und der eine oder andere gibt sich der Illusion hin, dass ein neuer Partner seine Sehnsucht erfüllen werde. Sie glauben, nichts weiter als Liebe zu wollen, aber Liebe ist für sie ein Idol, eine Göttin; der sie sich unterwerfen wollen, nicht ein Ausdruck ihres Seins. Sie scheitern zwangsläufig, denn "Liebe ist ein Kind der Freiheit" (wie es in einem alten französischen Lied heißt), und die Anbeter der Göttin der Liebe versinken schließlich in solcher Passivität, dass sie langweilig werden und verlieren, was von früherer Anziehungskraft noch übrig war.

[...]

Wenn sich die patriarchalische Form des Besitzes von Personen allmählich überholt, wie wird der Durchschnittsbürger der vollentwickelten Industriestaaten seine Leidenschaft stillen, Besitz anzuhäufen, zu erhalten und zu vermehren? Die Antwort liegt in einer Ausdehnung des Besitzanspruches auf Freunde, Liebespartner, Gesundheit, Reisen, Kunstgegenstände, auf Gott und auf das eigene Ich.
- ebd., S. 64f. und 91.

Aktivität:
„Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren *Tätigseins*, des produktiven Gebrauchs der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder - wenn auch in verschiedenem Maß - ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendentieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben.“
- ebd., S. 110.

Worte und Erlebnisse:
„In dem Augenblick, in dem ich ein Erleben vollständig in Gedanken und Worte umsetze, verflüchtigt er sich, es verdorrt, ist tot, wird zum bloßen Gedanken. Daher ist Sein nicht mit Worten beschreibbar und nur durch gemeinsames Erleben kommunikabel. In der Existenzweise des Habens herrscht das tote Wort, in der des Seins die lebendige Erfahrung, für die es keinen Ausdruck gibt. (Natürlich zählt auch das lebendige und produktive Denken zum Sein.)“
- ebd., S. 110.

Blaues Glas:
„Vielleicht kann die Existenzweise des Seins am besten durch ein Symbol verdeutlicht werden, das ich Max Hunzicker verdanke: Ein blaues Glas erscheint blau, weil es alle anderen Farben absorbiert und sie so nicht passieren lässt. Das heißt, wir nennen ein Glas blau, weil es das Blau gerade nicht in sich behält. Es ist nicht nach dem benannt, was es besitzt, sondern nach dem, was es hergibt.“
- ebd., S. 111.

Aktivität, Passivität und Geschäftigkeit:
„Aktivität im modernen Sinne unterscheidet nicht zwischen Tätigsein und bloßer Geschäftigkeit. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Aktivitäten, der dem ähnelt, den man zwischen "entfremdeter" und "nicht entfremdeter" Tätigkeit machen würde. [...] Produktives Tätigsein bezeichnet den Zustand innerer Aktivität, sie muss nicht notwendigerweise mit der Hervorbringung eines künstlerischen oder wissenschaftlichen Werkes bzw. von etwas "Nützlichem" verbunden sein. [...] Er gibt seinen eigenen Fähigkeiten Leben und schenkt anderen Menschen und Dingen Leben.
-
Sowohl "Aktivität" als auch "Passivität" können zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben. Entfremdete Aktivität im Sinne bloßer Geschäftigkeit ist in Wirklichkeit "Passivität", das heißt Unproduktivität. Hingegen kann Passivität im Sinne von Nichtgeschäftigkeit nicht entfremdete Aktivität sein. Dies ist heute so schwer zu verstehen, weil die meisten Arten von Aktivität entfremdete "Passivität" sind, während produktive Passivität selten erlebt wird.“
- ebd., S. 113f.

Sein und Schein:
„Ich habe bisher die Bedeutung des Seins beschrieben, indem ich es dem Haben gegenüberstellte. Doch ein zweiter, ebenso wichtiger Sinngehalg des Seins wird deutlich, wenn man es mit dem 'Schein' vergleicht. Wenn ich gütig erscheine, meine Güte aber nur eine Maske ist, hinter der ich meine ausbeuterische Absichten verberge [...], dann steht der äußere Anschein, das heißt mein äußeres Verhalten, in krassem Widerspruch zu den tatsächlichen Kräften, die mich motivieren.“
- ebd., S. 121.

Haben-Sein und Verlust:
„Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?' Nichts ist als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise. Weil ich verlieren 'kann', was ich habe, mache ich mir natürlich ständig Sorgen, dass ich verlieren 'werde', was ich habe. Ich fürchte mich vor Dieben, vor wirtschaftlichen Veränderungen, vor Revolutionen, vor Krankheit, vor dem Tod, und ich habe Angst zu lieben, Angst vor der Freiheit, vor dem Wachsen, vor der Veränderung, vor dem Unbekannten. [...] Während beim Haben das, was man hat, sich durch Gebrauch verringert, nimmt das Sein durch die Praxis zu [...]. Die Kräfte der Vernunft, der Liebe, des künstlerischen und intellektuellen Schaffens - alle wesenseigenen Kräfte wachsen, indem man sie ausübt. Was man gibt, verliert man nicht, sondern im Gegenteil, man verliert, was man festhält. In der Existenzweise des Seins liegt die einzige Bedrohung meiner Sicherheit in mir selbst: im mangelnden Glauben an das Leben und an meine produktiven Kräfte, in regressiven Tendenzen, in innerer Faulheit, in der Bereitschaft, andere über mein Leben bestimmen zu lassen. Aber diese Gefahren gehören nicht notwendig zum Sein, wohingegen die Gefahr des Verlustes dem Haben innewohnt.“
- ebd., S. 136f.

Aktivität und Passivität:
„Aktivität im modernen Sinne unterscheidet nicht zwischen Tätigsein und bloßer Geschäftigkeit. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Aktivitäten, der dem ähnelt, den man zwischen "entfremdeter" und "nicht entfremdeter" Tätigkeit machen würde. [...] Produktives Tätigsein bezeichnet den Zustand innerer Aktivität, sie muss nicht notwendigerweise mit der Hervorbringung eines künstlerischen oder wissenschaftlichen Werkes bzw. von etwas "Nützlichem" verbunden sein. [...] Er gibt seinen eigenen Fähigkeiten Leben und schenkt anderen Menschen und Dingen Leben.
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Sowohl "Aktivität" als auch "Passivität" können zwei völlig verschiedene Bedeutungen haben. Entfremdete Aktivität im Sinne bloßer Geschäftigkeit ist in Wirklichkeit "Passivität", das heißt Unproduktivität. Hingegen kann Passivität im Sinne von Nichtgeschäftigkeit nicht entfremdete Aktivität sein. Dies ist heute so schwer zu verstehen, weil die meisten Arten von Aktivität entfremdete "Passivität" sind, während produktive Passivität selten erlebt wird.“
- ebd., S. 113f.

Sein und Schein:
„Ich habe bisher die Bedeutung des Seins beschrieben, indem ich es dem Haben gegenüberstellte. Doch ein zweiter, ebenso wichtiger Sinngehalt des Seins wird deutlich, wenn man es mit dem 'Schein' vergleicht. Wenn ich gütig erscheine, meine Güte aber nur eine Maske ist, hinter der ich meine ausbeuterische Absichten verberge [...], dann steht der äußere Anschein, das heißt mein äußeres Verhalten, in krassem Widerspruch zu den tatsächlichen Kräften, die mich motivieren.“
- ebd., S. 121.

Haben-Sein und Verlust:
„Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe?' Nichts ist als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise. Weil ich verlieren 'kann', was ich habe, mache ich mir natürlich ständig Sorgen, dass ich verlieren 'werde', was ich habe. Ich fürchte mich vor Dieben, vor wirtschaftlichen Veränderungen, vor Revolutionen, vor Krankheit, vor dem Tod, und ich habe Angst zu lieben, Angst vor der Freiheit, vor dem Wachsen, vor der Veränderung, vor dem Unbekannten. [...] Während beim Haben das, was man hat, sich durch Gebrauch verringert, nimmt das Sein durch die Praxis zu [...]. Die Kräfte der Vernunft, der Liebe, des künstlerischen und intellektuellen Schaffens - alle wesenseigenen Kräfte wachsen, indem man sie ausübt. Was man gibt, verliert man nicht, sondern im Gegenteil, man verliert, was man festhält. In der Existenzweise des Seins liegt die einzige Bedrohung meiner Sicherheit in mir selbst: im mangelnden Glauben an das Leben und an meine produktiven Kräfte, in regressiven Tendenzen, in innerer Faulheit, in der Bereitschaft, andere über mein Leben bestimmen zu lassen. Aber diese Gefahren gehören nicht notwendig zum Sein, wohingegen die Gefahr des Verlustes dem Haben innewohnt.“
- ebd., S. 136f.

Haben und Beziehungen:
„Am Haben orientierte Menschen möchten den Menschen, den sie lieben oder bewundern, 'haben'. Dies kann man im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern und unter Freunden beobachten. Beide Partner wollen den anderen zur alleinigen Verfügung haben und begnügen sich nicht damit, die Nähe des anderen des anderen zu genießen; deshalb sind sie auf andere eifersüchtig, die den gleichen Menschen "haben" wollen. Jeder klammert sich an den anderen wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke. Beziehungen, die wesentlich besitzorientiert sind, sind bedrückend, belastend, voll von Eifersucht und Konflikten.“
- ebd., S. 139.

Haben und Habgier:
„Allgemeiner gesprochen: Das Verhältnis zwischen den Menschen ist in der Existenzweise des Habens durch Rivalität, Antagonismus und Furcht gekennzeichnet. Das antagonistische Element bei Beziehungen, die am Haben orientiert sind, liegt in der Eigenart des Habens selbst begründet: Wenn Haben die Basis meines Identitätsgefühls ist, weil "ich bin, was ich habe", dann muss der Wunsch zu haben zum Verlangen führen, viel, mehr, am meisten zu haben. Mit anderen Worten, '*Habgier*' ist die natürliche Folge der Habenorientierung. Es kann die Habgier des Geizigen, die Habgier des Profitjägers, die Habgier des Schürzenjägers oder mannstoller Frauen sein. Was auch immer seine Gier entfacht, er wird nie genug haben, er wird niemals "zu-frieden" sein. Im Gegensatz zu körperlichen Bedürfnissen, wie Hunger, bei denen es physiologisch bedingte Grenzen gibt, ist die 'psychische' Gier - und jede Gier ist psychisch, selbst wenn sie über den Körper befriedigt wird - unersättlich, da die innere Leere und Langeweile, die Einsamkeit und die Depression, die sie eigentlich überwinden soll, selbst durch die Befriedigung der Gier nicht beseitig werden können. Da einem das, was man hat, auf die eine oder andere Weise weggenommen werden kann, muss man außerdem ständig mehr haben wollen, um sein Leben vor dieser Gefahr zu schützen. Wenn jeder mehr möchte, muss jeder die aggressiven Absichten seiner Nachbarn fürchten, ihm wegzunehmen, was er hat; um solchen Angriffen vorzubeugen, muss man selbst stärker und präventiv aggressiver werden. Da die Produktion, so groß sie auch sein mag; niemals mit 'unbegrenzten' Wünschen Schritt halten kann, muss zwischen den Individuen im Kampf um den größten Anteil Konkurrenz und Antagonismus herrschen. Und selbst wenn ein Stadium absoluten Überflusses erreicht werden könnte, würde der Kampf weitergehen. Wer von der Natur mit schwächerer Gesundheit und geringerer Attraktivität, mit weniger Gaben und Talenten ausgestattet wäre, müsste die anderen, die "mehr" haben, bitter beneiden.
[…]
Die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft in einer sogenannten sozialistischen Welt, die vom Geist der Habgier voll ist, ist ebenso illusionär - und gefährlich - wie die Idee eines immerwährenden Friedens zwischen habgierigen Völkern.“
- S. 139 – 142.

Sein und geteilte Freude:
„In der Existenzweise des Seins hat diese Art von privatem Haben (Privateigentum) wenig gefühlsmäßige Betonung, denn ich brauche etwas nicht zu besitzen, um es genießen, ja sogar, um es benützen zu können. In der Existenzweise des Seins kann mehr als nur ein Mensch, können in der Tat Millionen Menschen sich an der gleichen Sache erfreuen, da keiner von ihnen sie 'haben' muss, um sie genießen zu können. Diese Tatsache verhindert nicht nur Streit; sie bewirkt eines der tiefsten Erlebnisse menschlichen Glücks, 'geteilte Freude'. Nichts vereinigt Menschen mehr (ohne ihre Individualität einzuengen) als ihre gemeinsame Bewunderung und Liebe für einen Menschen oder wenn sie durch einen Gedanken, ein Musikstück, ein Gemälde oder ein Ritual verbunden sind oder gar das Leiden teilen. Ein solches Erlebnis macht die Beziehung zwischen zwei Menschen lebendig und erhält sie lebendig, es ist die Grundlage aller großen religiösen, politischen und philosophischen Bewegungen. Dies gilt natürlich nur so lange und in dem Maße; als der einzelne wirklich liebt und bewundert. Sobald religiöse und politische Bewegungen verknöchern, sobald die Bürokratie den Menschen durch Suggestion und Drohungen gängelt, werden weniger die Erfahrungen geteilt als die materiellen Dinge.
-
Im sexuellen Akt hat die Natur gleichsam den Prototyp oder das Symbol - gemeinsam erlebter Lust geschaffen, wenn es sich auch empirisch nicht immer um geteilte Lust handelt. Häufig sind die Partner so narzisstisch, selbstbezogen und possessiv, dass man bestenfalls von 'gleichzeitiger', aber nicht von 'geteilter' Lust sprechen kann.“
- ebd., S. 142.

Angst vor dem Sterben - Bejahung des Lebens:
„Es ist vorhin schon gesagt worden: Wenn das Gefühl der Sicherheit auf dem beruht, was man hat, dann ist Angst vor dem Verlust des Besitzes die unausweichliche Folge. An dieser Stelle möchte ich diesen Gedanken weiter verfolgen.
[...]
In dem Maße, in dem wir in der Existenzweise des Habens leben, müssen wir das Sterben fürchten, und keine rationale Erklärung wird uns von dieser Angst befreien. Aber sie kann selbst noch in der Stunde des Todes gemildert werden - durch Bekräftigung der Liebe zum Leben, durch Erwiderung der Liebe anderer, die unsere eigene Liebe entfachen kann. Aber die Bekämpfung der Angst vor dem Sterben sollte nicht als Vorbereitung auf den Tod beginnen, sondern ein Teil des ständigen Bemühens sein, 'das Haben zu verringern und im Sein zu wachsen'. [...].
-
Die Anleitung zum Sterben ist in der Tat dieselbe wie die Anleitung zum Leben. Je mehr man sich des Verlangens nach Besitz in allen seinen Formen und besonders seiner Ichgebundenheit entledigt, umso geringer ist die Angst vor dem Sterben, da man nichts zu verlieren hat.“
- ebd., S. 155.

Erinnerungen und Erwartungen:
„Eine wichtige Einschränkung muss jedoch hinsichtlich dessen, was über das Verhältnis zur Vergangenheit gesagt wurde, gemacht werden: Meine Bemerkungen bezogen sich auf das Erinnern, das Nachdenken und Grübeln über die Vergangenheit; wer auf diese Weise Vergangenheit hat, für den ist die Vergangenheit tot. Aber man kann die Vergangenheit auch zum Leben erwecken. Man kann eine Situation der Vergangenheit mit der gleichen Frische erleben, als geschehe sie im Hier und Jetzt; das heißt, man kann die Vergangenheit wiedererschaffen, ins Leben zurückrufen (die Toten auferstehen passen, symbolisch gesprochen). Soweit einem dies gelingt, hört die Vergangenheit auf, vergangen zu sein, sie 'ist' das Hier und Jetzt. Auch die Zukunft kann man erleben, als sei sie das Hier und Jetzt. Dies geschieht, wenn ein künftiger Zustand im eigenen Bewusstsein so vollkommen vorweggenommen wird, dass es sich nur noch "objektiv", das heißt als äußeres Faktum, um Zukunft handelt, nicht aber im subjektiven Erleben. Solcherart ist die Natur des genuin utopischen Denkens (im Gegensatz zum utopischen Tagträumen); dies ist aber auch die Basis echten Glaubens, der nicht der äußeren Realisierung in der "Zukunft" bedarf, um als real erfahren zu werden.“
- S. 158f.

Der neue Mensch:
„Die Funktion der neuen Gesellschaft ist es, die Entstehung eines neuen Menschen zu fördern, dessen Charakterstruktur folgende Züge aufweist:
- die Bereitschaft, alle Formen des Habens aufzugeben, um ganz zu sein.
- Sicherheit, Identitätserleben und Selbstvertrauen, basierend auf dem Glauben an das, was man ist, und auf dem Bedürfnis nach Bezogenheit, auf Interesse, Liebe und Solidarität mit der Umwelt, statt das Verlangen, zu haben, zu besitzen und die Welt zu beherrschen und so zum Sklaven des eigenen Besitzes zu werden.
- Annahme der Tatsache, dass niemand und nichts außer man selbst dem Leben Sinn gibt, wobei diese radikale Unabhängigkeit und Nichtheit (no-thingness) die Voraussetzung für ein volles Engagiertsein sein kann, das dem Geben und Teilen gewidmet ist.
- die Fähigkeit, wo immer man ist, ganz gegenwärtig zu sein.
- Freude aus dem Geben und Teilen, nicht aus dem Horten und der Ausbeutung anderer zu schöpfen.
- Liebe und Ehrfurcht vor dem Leben in allen seinen Manifestationen zu empfinden und sich bewusst zu sein, dass weder Dinge noch Macht, noch alles Tote heilig sind, sondern das Leben und alles, was dessen Wachstum fördert.
- bestrebt zu sein, Gier, Hass und Illusionen, so weit wie möglich zu reduzieren.
- imstande zu sein, den eigenen Narzissmus zu überwinden und die tragische Begrenztheit der menschlichen Existenz zu akzeptieren.
- sich bewusst zu sein, dass die volle Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der des Mitmenschen das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist.
- Wissen, dass zur Erreichung dieses Zieles Disziplin und Anerkennung der Realität nötig sind.
- Wissen, dass Wachstum nur dann gesund ist, wenn es sich innerhalb einer Struktur vollzieht, und den Unterschied zwischen "Struktur" als Attribut des Lebens und "Ordnung" als Attribut der Leblosigkeit, des Toten, zu kennen.
- Entwicklung des eigenen Vorstellungsvermögens, nicht nur zur Flucht aus unerträglicher Bedingungen, sondern als Vorwegnahme realer Möglichkeiten.
- andere nicht täuschen, sich aber auch von anderen nicht täuschen zu lassen; man kann unschuldig, aber man soll nicht naiv sein.
- sich selbst zu kennen, nicht nur seines bewusstses, sondern auch sein unbewusstes Selbst - von dem jeder Mensch ein schlummerndes Wissen in sich trägt.
- sich eins zu fühlen mit allem Lebendigen und daher das Ziel aufzugeben, die Natur zu erobern, zu unterwerfen, sie auszubeuten, zu vergewaltigen und zu zerstören, und statt dessen zu versuchen, sie zu verstehen und mit ihr zu kooperieren.
- unter Freiheit nicht Willkür zu verstehen, sondern die Chance, man selbst zu sein - nicht als Bündel zügelloser Begierden, sondern als fein ausbalancierte Struktur, die in jedem Augenblick mit der Alternative Wachstum oder Verfall, Leben oder Tod konfrontiert ist.
- Wissen, dass das Böse und die Destruktivität notwendige Folgen verhindernden Wachstums sind.
- Wissen, dass nur wenige Menschen Vollkommenheit in allen diesen Eigenschaften erreicht haben, aber nicht den Ehrgeiz zu haben, "das Ziel zu erreichen", eingedenk, dass ein solcher Ehrgeiz nur eine andere Form von Gier und Haben ist.
- was auch immer der entfernteste Punkt sein mag, den uns das Schicksal zu erreichen gestattet - glücklich zu sein in diesem Prozess stetig wachsender Lebendigkeit, denn so bewusst und intensiv zu leben, wie man kann, ist so befriedigend, dass die Sorge darüber, was man erreichen oder nicht erreichen könnte, gar nicht erst aufkommt.“
- ebd., S. 207 – 209.

Literaturverzeichnis

Erich Fromm: Haben oder Sein. München: dtv Verlagsgesellschaft.

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Kommentare: 1
  • #1

    Philoclopedia (Freitag, 27 Januar 2023 15:02)

    S. 94 - 95: "Aber dieses Bild muss durch den Hinweis zurechtgerückt werden, dass in der jungen Generation eine Tendenz vorhanden ist, die im Gegensatz zur Einstellung der Mehrheit steht. Wir können hier Konsumgewohnheiten feststellen, die nicht versteckte Formen des Aneignens und Habens sind, sondern Ausdruck echter Freude an Aktivitäten, die man gerne ausübt, ohne einen "dauerhaften" Gegenwert zu erwarten. Diese jungen Leute unternehmen lange und oft beschwerliche Reisen, um Musik zu hören, die ihnen gefällt, um einen Ort zu sehen, den sie sehen wollen."


    S. 97f.: "Die *Existenzweise des Habens* leitet sich vom Privateigentum ab. In dieser Existenzweise zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten. Die Habenorientierung schließt andere aus und verlangt mir keine weiteren Anstrengungen ab, um meinen Besitz zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen. Es ist die Haltung, die im Buddhismus als Gier, in der jüdischen und der christlichen Religion als Habsucht bezeichnet wird. Sie verwandelt alle und alles in tote, meiner Macht unterworfene Objekte."

    S. 110: „In dem Augenblick, in dem ich ein Erleben vollständig in Gedanken und Worte umsetze, verflüchtigt er sich, es verdorrt, ist tot, wird zum bloßen Gedanken. Daher ist Sein nicht mit Worten beschreibbar und nur durch gemeinsames Erleben kommunikabel. In der Existenzweise des Habens herrscht das tote Wort, in der des Seins die lebendige Erfahrung, für die es keinen Ausdruck gibt. (Natürlich zählt auch das lebendige und produktive Denken zum Sein.)“
    - ebd., S. 110.


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