„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Die Entwicklung des Utilitarismus

Diesen Text habe ich im Rahmen meines Philosophiestudiums als unbenoteten Essay verfasst.

Essayfrage: Ist es immer am besten, das zu tun, was die besten Folgen hat?

Aristoteles meinte, dass Glück das letzte Ziel menschlichen Handelns sei. So wie die Biene zur Blüte strebt und Gegenstände aufgrund der Schwerkraft nach unten fallen, so strebe die menschliche Spezies immerzu nach Glück. Wenn das stimmt, sollte es, so könnte man annehmen, das Ziel jedes Ethikers sein, „das größte Glück für die größte Zahl“ (frei nach Bentham) zu generieren. Denn was bitteschön könnte moralischer sein, als eine Moral daran zu bemessen, ob sie den Menschen dabei hilft die letzten Ziele seines Handelns zu erreichen, respektive, glücklich zu sein?


Als ich zum ersten Mal von einer solchen „utilitaristischen“ Argumentation gehört habe, fande ich sie intuitiv überzeugend. Utilitaristen sind Menschen, die diejenige Handlung präferieren, die im Vergleich zu anderen Handlungsalternativen die größte Anzahl positiver Folgen hervorbringt. Dabei berücksichtigt der Utilitarist nicht nur die Handlungsfolgen auf die eigene Person, sondern auch die auf sein gesamtes soziales Umfeld. Mich hat der Utilitarismus bei meiner ersten Begegnung mit ihm deshalb überzeugt, weil es mir einleuchtend erschien, dass wenn eine Handlung mich und meine Mitmenschen glücklich macht, dies hinreichend sein muss um ihr das Prädikat „moralisch gut“ zu verleihen. Es muss immer am besten sein, das zu tun, was die besten Folgen hat, so war meine feste Überzeugung.

 

Inzwischen habe ich mir ein paar Gedanken bezüglich dieser Auffassung gemacht und musste mir eingestehen, dass ich mit meiner ersten Intuition falsch lag. Die Einstellung, dass eine Handlung immer nach ihren individuellen Folgen zu beurteilen sei ist nicht nur undurchdacht, sondern in ihrer starren, kategorischen und kaltpragmatischen Art auch brandgefährlich für eine freiheitlich verstandene Gesellschaft! Warum das so ist und wie ich zu diesem Sinneswandel kam, möchte ich im Folgenden darlegen.

(Handlungsutilitarismus)

Zuerst einmal gestaltet es sich realiter problematisch, einzelne Handlungen nach ihren einzelnen Folgen zu bewerten, ohne dabei „über den Tellerrand des Individuellen hinauszuschauen“. Wenn ich als Einzelperson beispielsweise schwarzfahre, kann das unterm Strich durchaus mehr positive als negative Folgen haben. Denn ich als Einzelperson habe durch das Schwarzfahren ja Geld gespart, was mich glücklicher macht, während das Busunternehmen den einzelnen, kleinen, ihm entgangenen Geldbetrag höchstwahrscheinlich gar nicht bemerkt. In diesem Fall wäre es utilitaristisch akzeptabel, ja vielleicht sogar geboten, dass ich schwarzfahre! Aber kann dies wirklich als Maß für eine Moral, d.h. für ein allgemeingültiges Normensystem, gelten? Wohl kaum, denn würde jeder dieser Überlegung folgen, würde das Busunternehmen pleitegehen, die öffentliche Infrastruktur bräche zusammen und wohlmöglich würde auch das zwischenmenschliche Misstrauen kollektiv ansteigen, wenn jeder gleich betrügen würde, sobald der einzelne Betrug eine positive Folgenbilanz hätte. Dieses Beispiel zeigt recht plastisch, dass auch wenn einzelne Handlungen positive Folgen vermuten lassen, sie in Summe zugleich zu höchst unerfreulichen Ergebnissen führen können. Oder anders gesagt: Wenn jeder darauf kalkuliert, mit Einzelakten das Gesamtglück zu mehren, ist das zwar gutgemeint, kann aber dazu führen, dass das Gesamtglück nicht vermehrt, sondern vielleicht sogar deutlich gemindert wird! Man muss also schon auch die allgemeinen Folgen allgemeiner Handlungsnormen berücksichtigen, über „den Tellerrand des Individuellen hinausschauen“ quasi, wenn man allgemeinverbindliche Moralen konstituieren möchte. Und die Allgemeinheit, d.h. Universalisierbarkeit ist ein Hauptanspruch einer jeden wahren Moraltheorie.

(Regelutilitarismus)

Aber nun gut, beziehen wir das Allgemeine nun mit ein und fragen nach denjenigen Handlungsregeln, die bei allgemeiner Befolgung das größtmögliche Glück für die Allgemeinheit erzielen. Somit wäre das vorhergegangene Problem gelöst, niemand dürfte mehr Schwarzfahren, da „du darfst betrügen“ wohl kaum als allgemeine Regel für das größte Gesamtglück gelten kann. Aber, um auf die jetzt modifizierte Variante unserer Eingangsfrage zurückzukommen, ist es deshalb auch immer besser, denjenigen Handlungsregeln zu folgen, welche allgemein die besten Folgen haben? Auch diese These muss verneint werden. Stellen wir uns beispielsweise eine Gruppe aus 10 Personen vor, in der die ersten neun Personen die zehnte zu ihren Gunsten unterdrücken. Es ist durchaus denkbar, dass durch diese Unterdrückung insgesamt ein Glücksmehrwert für die neun Personen entsteht, der höher ist als das Glücksdefizit des Einzelnen. Das Glück der Allgemeinheit wäre also gestiegen. Übertragen auf eine ganze Gesellschaft würde das heißen, dass Minderheiten oder sogar Mehrheiten unterdrückt werden dürften, insofern sich dadurch das durchschnittliche Glücksniveau anheben ließe. Offensichtlich bedarf es also dem Einführen von Prinzipien, die auch dann nicht gebrochen werden dürfen, wenn dies mit einer Erhöhung des allgemeinen Glücks einhergehen würde. „Du darfst nicht töten“ oder „Alle Menschen sind gleich“ können als Beispiele für solche Prinzipien angesehen werden.

(Präferenzutilitarismus)

Doch selbst wenn man nach allgemeinen Handlungsregeln sucht und noch dazu unumstößliche Prinzipien einführt, scheint es immer noch fragwürdig, ob man wirklich immer das tun soll, was das meiste Glück verursacht. Eine Ethik, die Moralität an einem festgesetzten Gut wie Glück beurteilt, läuft nämlich in Gefahr, die Individualität von Wünschen und Vorstellungen zu unterschlagen. Pathetisch formuliert führt sie in eine „Glücksdiktatur“. Es stimmt nämlich gar nicht, dass alle Menschen glücklich sein wollen. Manche Menschen sind masochistisch veranlagt oder hören lieber die bittere Wahrheit, als eine glücklich-machende Lüge. Diesen Menschen würde mein kein Gefallen machen, wenn man mit allem was man tut versucht sie glücklich zu machen, d.h. sie in der individuellen Freiheit sich selbst zu verletzen einschränkt oder sie anlügt. Auch einen Fakir sollte niemand vom Nagelbrett ziehen, denn es entspricht seinen Vorlieben, sich auf ein benageltes Brett zu legen, eine Vorliebe, die er in einer freiheitlichen Gesellschaft ausleben können sollte.

 

Aus all den bisherigen Überlegungen folgt, dass es offenbar nicht immer am besten ist, das zu tun, was die besten Folgen hat. Es sollte auch klar geworden sein, weshalb ich diese These als gefährlich für unsere freiheitliche Gesellschaft erachte (Schlagworte: Vertrauensbasis, Minderheitenschutz, Vorlieben eines Fakirs). Bleibt noch die Frage zu klären, ob es attraktive Alternativen zum vorgestellten Glücksutilitarismus gibt. Und ja, die gibt es, des Rätsels Lösung steckt schlussendlich im vorherigen Absatz versteckt, genauer gesagt im Wort „Vorliebe“.

Wir haben die ganze Zeit über vergeblich versucht undifferenziert auszumachen, was für alle Menschen gut ist und die Handlung mit dieser „guten“ Folge dann allen Menschen aufzuoktroyieren. Menschen sind jedoch keine homogene Masse, sie besitzen verschiedene Präferenzen und dementsprechend sollte sie eine Moraltheorie auch behandeln. Damit ein verbesserter Utilitarismus dies leisten kann, muss er seinen Glücksbegriff einfach durch das Ideal der individuellen Präferenz ersetzen: Ziel unserer Handlungen sollte es sein, unter den betroffenen Personen möglichst viele Wünsche zu erfüllen. Auf diese Weise umgehen wir auch die vorher implizit geäußerte Anmaßung, wir könnten ausmachen, was für „den Menschen“ „am besten“ ist. Lasst die Leute doch selbst entscheiden, was für sie am besten ist!

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