Entgegen dem Titel ist der Film deutsch synchronisiert. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Im Film wird die letzte Unterrichtsstunde eines Philosophiekurses gezeigt. Wie man ganz am Schluss erfährt, sind es offenbar hochbegabte Jugendliche, die sich mit der Teilnahme am Kurs zusätzliche Punkte für die Aufnahme an einer Universität erwerben. Vieles Weitere bleibt im Dunkeln, z.B. warum der Film in Jakarta spielt und welche Bedeutung verschiedene Kulissen haben: Khmertempel, eine Wüsten- und eine Südseelandschaft als Hintergrund verschiedener Szenen.
Zu Beginn der Stunde werden, gewissermaßen als Aufwärmübung, einige fast schon klassische philosophische Gedankenexperimente durchdekliniert. Das Beispiel mit den Gleisarbeitern (siehe z.B. hier als Trolley-Problem) kannte ich schon, aber das Unwissenheit-Glücks-Paradoxon nicht. Im Film wird es an einem Beispiel erläutert:
Eine junge Frau hängt nur noch mit ihren Händen an einem hohen Turm und droht herunterzufallen. Verzweifelt ruft sie über ihr Handy einige Freunde zu Hilfe. Diese kommen, stellen aber fest, dass sie sich bei der Hilfe selbst in Gefahr bringen würden und abzustürzen drohen. Deshalb weichen sie zurück und lassen die junge Frau allein. Sie fällt, aber (im Film entgegen aller Logik) hat sie auf einmal einen Fallschirm und kann sich retten. Später begegnet sie wieder ihren vormaligen Freunden.
Das Paradoxon, dass ich unter diesem Namen im Netz nicht gefunden habe, besteht nun darin, dass sie, wenn sie die Bekannten nicht um Hilfe gebeten hätte (bezüglich deren Hilfsbereitschaft also unwissend geblieben wäre), noch mit ihnen befreundet, also glücklich geblieben wäre. Nach diesem Intro stellt der Lehrer das eigentliche Gedankenexperiment vor, das den Hauptteil der Stunde füllen soll:
Auf der Erde beginnt gerade eine atomare Katastrophe, für die Schüler steht ein Bunker zur Verfügung, der ihnen für ein Jahr Unterschlupf gewähren kann. Aber er hat nur eine Kapazität für 10 Personen und sie sind 20, mit dem Lehrer 21. Jeder der Schüler muss ein Kärtchen ziehen, auf dem sein Beruf in diesem Szenario vermerkt ist. Es gibt einen Ökobauern, eine Bauingenieurin, einen Elektriker, …, eine Immobilienmaklerin, einen Harfenspieler, einen Dichter. Der Lehrer selbst ist der Joker, sein Beruf bleibt unbekannt.
Streng nach der Logik, die Philosophie (nach Meinung des Lehrers) ausmacht, wird unter den Schülern abgestimmt, wer wertvoll für das Überleben der Menschheit im Bunker ist und wer nicht. Es ist klar, wie diese Wahl ausgeht, streng nach der Nützlichkeit der Berufe in einer atomar verstrahlten und wiederaufzubauenden Welt wird nach Berufen selektiert. Als sich die Gruppe der zukünftigen Bunkerbewohner von den anderen getrennt hat, hören sie auf einmal Schüsse. Als sie zurück eilen, sehen sie, dass der Lehrer die Ausgesonderten erschossen hat. Er meint dazu nur lakonisch: „Sie haben mich darum gebeten. Sie wollten nicht langsam an der radioaktiven Strahlung sterben.“ Entsetzt über ihren Lehrer, der den zehnten Platz im Bunker eingenommen hätte, lassen sie ihn dort nicht hinein. Auch als er ihnen durch ein Fenster einen Zettel vorhält, auf dem steht: „Nur ich kenne den Türcode für das Verlassen des Bunker!“, ändern sie ihre Meinung nicht. Es kommt, wie es kommen muss. Nach einem Jahr können die Bunkerbewohner ihn nicht verlassen, zuerst gehen ihnen die Essensvorräte, dann der Sauerstoff aus, am Ende dieses ersten Durchgangs des Gedankenexperimente sind alle 21 Menschen tot.
Aber da es nur ein Gedankenexperiment war, beschließen die Schüler einen zweiten Durchgang zu spielen. Allerdings gibt es jetzt eine leichte Abwandlung der Regeln: Von jedem Beteiligten sind außer dem Beruf weitere Eigenschaften bekannt. Der Ökobauer ist schwul, ein Mann ist unfruchtbar, eine Frau hat keine Eierstöcke mehr, bei einer weiteren besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Ebola infiziert ist, die (in im ersten Durchgang als unnütz aussortierte) Opernsängerin spricht mehrere Sprachen, wird aber in drei Jahren durch einen Kehlkopfkrebs ihre Stimme verlieren, usw. Eine weitere neue Bedingung ist, dass, um das Überleben der Menschheit zu sichern, im Bunkerjahr mindestens ein Kind zur Welt kommen muss. Unter diesen neuen Bedingungen fällt die Zusammensetzung der Gruppe anders aus, auch der Lehrer, von dem ja nun bekannt ist, dass nur er den Bunker öffnen kann, ist mit dabei.
Auch in diesem zweiten Durchgang überlebt niemand, denn der Lehrer, der nach einem Versuch, eine der Frauen zu vergewaltigen – es muss ja ein Kind gezeugt werden – von einem schwulen Schüler schwer verletzt wird, öffnet im Todeskampf den Bunker und alle Insassen sterben im atomaren Feuer. Die Darstellung ist derart plastisch und real, dass man sich jeweils erst am Ende eines solchen Szenarios daran erinnert, dass es nur ein Gedankenexperimt war, das in einem Schulzimmer durchgespielt wurde. Niemand ist zu Schaden gekommen.
Eigentlich nur die Meisterschülerin des Lehrers möchte einen dritten Versuch durchspielen. Später erfährt man, dass sie früher eine Liaison mit dem Lehrer gehabt hat und im Verborgenen ein Eifersuchtsdrama zwischen ihrem neuen Freund, einem der Schüler, und dem Lehrer schwelt. In diesem dritten Durchgang wählt allein die Schülerin die Bunkerinsassen aus. Sie entscheidet sich (außer für ihren Freund natürlich) u.a. für den Harfenspieler, die Opernsängerin, einen Pokerspieler, den Hausmeister und alle anderen, die aus Sicht der zuvor angewendeten Logik des Lehrers nutzlos für das Überleben der Menschheit sind. In diesem dritten Durchgang haben jedenfalls alle im Bunker viel Spaß, man singt, musiziert, rezitiert Gedichte. Auch für die Gruppe außerhalb des Bunkers nimmt das Geschehen einen anderen Verlauf: Von den vier Männern und sechs Frauen kommen drei Männer um, der vierte vergnügt sich an jedem Wochentag mit einer anderen Frau, sonntags nimmt er sich frei. Dieses Szenario ist natürlich nur möglich, weil die atomare Katastrophe im dritten Durchgang ausbleibt.
Am Ende des Films erfährt der Zuschauer von dem früheren Verhältnis des Lehrers mit seiner besten Schülerin. Sie verlässt den Ort der Schule mit ihrem Freund, der Lehrer bleibt allein zurück. Jetzt wird in die Handlung aus Sicht der Zuschauer eine weitere Metaebene eingeführt. Man sieht den Lehrer dreimal am Ende eines Tages eine Treppe hinaufgehen. Nach dem ersten Mal isst er allein und einsam ein Sandwich. Beim zweiten Mal sieht man ihn nach einer Pistole greifen und hört einen Schuss. Da er danach ein drittes Mal die Treppe hinaufgeht, weiß man als Betrachter, dass auch sein Suizid nur ein Gedankenexperiment ist – dieses Mal gewissermaßen mit uns als Zuschauern durchgeführt.
Was also soll dieser Film bedeuten? Ich vermute, einem an philosophischen Gedankenexperimenten wenig Interessierten wird dieser Film nicht gefallen. Für die wenigen Verbleibenden aber werden in jedem Durchgang neue interessante Fragen aufgeworfen:
· Ist die (philosophische) Logik ein geeignetes Kriterium, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wer bei begrenzten Ressourcen leben darf und wer nicht?
· Können das Einzelne oder die Gruppe für sich und für andere entscheiden?
· Ist der Beruf ein vernünftiges Kriterium oder spielen andere Kriterien eine wichtigere Rolle?
· Kann man so gut in die Zukunft sehen, dass man daraus Kriterien für das Handeln in der Gegenwart ableiten kann?
Für mich ist auch das Unwissenheit-Glücks-Paradoxon vom Beginn des Films ein wichtiger Gedankenanstoß: Macht einen Unwissenheit in vielen Fällen nicht glücklicher?
Beim Googeln findet man zwar das Paradoxon selbst nicht, aber der Zusammenhang zwischen Wissen und Glück scheint doch gleichzeitig ein Klassiker und ein aktuelles Thema der Philosophie zu
sein.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann