Beim Kauf dieses Buchs bin ich einer Empfehlung von Michael Springer in einer Rezension in „Spektrum der Wissenschaften“ 11/2013 gefolgt. Ich wusste bereits vorher ein bisschen über den Streit der beiden Wissenschaftler Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton, wer denn die Differenzialrechnung erfunden hat. Und auch einige, aus heutiger Sicht sehr moderne Ansichten von Leibniz über Raum und Zeit waren mir schon bekannt.
Bezüglich der Erfindung der Differenzialrechnung vertritt Padova die Ansicht, die heute von den meisten Wissenschaftshistorikern geteilt wird, dass Newton und Leibniz die Differenzialrechnung jeweils unabhängig voneinander entwickelt haben. Vermutlich hat Newton seine Fluxionsrechnung einige Zeit vor Leibniz entwickelt und Leibniz erhielt auch Kenntnis davon, während er an seiner eigenen Methode arbeitete, aber er hat die Grundideen eigenständig entwickelt und durchgesetzt hat sich letztlich auch die Leibnizsche Schreibweise und Berechnungsmethode.
Was die unterschiedlichen Auffassungen der beiden von Raum und Zeit betrifft: Ich habe eines der kniffligsten Gedankenexperimente, die ich kenne, im Buch wiedergefunden und gelesen, dass es ursprünglich von Newton stammt:
Ein Eimer
wird an eine zuvor verdrillte Schnur gehängt und beginnt sich zu drehen. Anfangs dreht sich das Wasser in dem Eimer noch nicht mit, weil es zu träge ist, der Bewegung des Eimers sofort zu folgen.
In dieser Phase eins ist die Wasseroberfläche glatt. In Phase zwei rotieren Eimer und Wasser gemeinsam. Dabei steigt das Wasser an der Wand des Eimers nach oben, die Wasseroberfläche wölbt sich.
Dann hält jemand den Eimer plötzlich an. Dennoch rotiert das Wasser in dieser dritten Phase weiter, und die Oberfläche bleibt gewölbt. Wodurch wird diese Krümmung der Wasseroberfläche
bewirkt?
Die Bewegung des Wassers relativ zum Eimer scheidet als Ursache aus. Denn
sowohl in Phase eins als auch in Phase drei bewegen sich Wasser und Eimer relativ zueinander, aber nur in Phase drei ist die Oberfläche gekrümmt. »Jenes Streben des Wassers« hänge also nicht von
der Eimerwand oder den umgebenden Körpern ab, folgert Newton. Er geht davon aus, dass sich an dem Experiment auch dann nichts ändern würde, wenn der Eimer in einem ansonsten vollkommen leeren
Weltraum rotieren würde. Auch dann würde die Wasseroberfläche gekrümmt bleiben. Entscheidend sei nämlich nicht die relative Bewegung des Wassers gegenüber irgendwelchen anderen Körpern, sondern
gegenüber dem absoluten Raum, den wir zwar nicht sehen, aber an den Wirkungen der Zentrifugalkraft erkennen könnten.
Das Verblüffende an diesem Experiment ist, dass auch die moderne Physik keine Antwort auf die Frage geben kann, was mit dem Eimer passieren würde, wenn er in einem vollkommen leeren Raum rotieren würde. Denn diesen vollkommen leeren Raum gibt es nicht, überall findet man Materie. Und genau an dieser Stelle unterscheiden sich auch bereits die Auffassungen von Newton und Leibniz fundamental: Für Newton gibt es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit. Unsere Messungen können sich diesen beiden zwar nur nähern, aber es gibt die absoluten Größen und alles Geschehen, z.B. die Bewegung aller Körper und die für sie abgeleitete physikalische Beschreibung, findet vor diesem Hintergrund statt.
An anderer Stelle im Buch nimmt Padova nochmals auf das Eimerepxeriment Bezug:
Wer Newtons Eimerexperiment folgt, der lässt in Gedanken ein rotierendes Universum zu. Heute gilt es als unwahrscheinlich, aber denkbar, dass eine solche Rotation unseres Universums eines Tages registriert wird. Im Jahr 2011 meinten Forscher der Universität Michigan, bei einer Durchmusterung des nördlichen Himmels festgestellt zu haben, dass sich von den 18 000 geprüften Galaxien sieben Prozent mehr linksherum als rechtsherum drehen. In der Summe könnte daraus also eine Rotation des Universums als Ganzes resultieren. Aber welchen Schluss zogen die Wissenschaftler daraus? Dass, falls sich das Ergebnis bestätigen sollte, außer unserem Kosmos mindestens ein zweites, ebenfalls rotierendes Paralleluniversum existieren müsste, damit sich die Drehimpulse gegenseitig aufheben.
Meiner Meinung nach gibt es außer der Hypothese eines Paralleluniversums (und ohne ein Multiversum zu postulieren) noch weitere und einfachere Annahmen, die das Phänomen erklären könnten:
· Unser Universum ist größer als wir annehmen.
· Die Erhaltungssätze gelten nicht für das Universum als Ganzes.
Ähnliche Beobachtungen wurden auch zur Gravitation gemacht, die scheinbar Materie aus unserem Universum herauszieht: Der dunkle Fluss.
Für Leibniz gibt es weder Raum noch Zeit, wenn keine Materie vorhanden ist, beide sind Kategorien unserer Erfahrung. Raum konstituiert sich nur relativ, in den Beziehungen zwischen Dingen und Vorgängen, die gleichzeitig sind. Die zeitliche Dimension ergibt sich, weil einige Dinge oder Vorgänge die Ursache von anderen sind. Ursachen gehen ihren Wirkungen zeitlich voraus. Letztlich hat Einstein diese Leibnizschen Auffassungen dann zu einem gewissen Abschluss gebracht, in dem er über die endliche Lichtgeschwindigkeit eine Beziehung zwischen Raum und Zeit hergestellt hat.
Meiner Meinung waren die Leibnizschen Auffassungen bereits vor Einstein plausibler als die Newtons, wenn man sich die folgenden Fragen genau durchdenkt:
· Wenn man das ganze Weltall um einen Meter nach links verschiebt, wie kann man das feststellen?
· Wenn man den Urknall eine Sekunde später stattfinden lässt, wie man das messen?
Die moderne Physik hat diese Fragen dadurch „beantwortet“, dass sie Raum und Zeit als Größen ansieht, die ebenfalls erst mit der Entstehung der Materie bzw. des Universums entstanden sind. Nichts anderes hat Leibniz mit seinen Überlegungen herausgefunden. Man kann nicht sagen, wo sich etwas absolut im Raum befindet, sondern man kann nur seine Lage relativ zu anderen Dingen angegeben. Man kann nicht sagen, wann etwas absolut stattgefunden hat, sondern nur in Relation zu anderen Ereignissen einen zeitlichen Abstand und für einen Vorgang eine zeitliche Dauer bestimmen.
Padova äußert in Bezug auf Raum und Zeit einen weiteren interessanten Gedanken: Während Längenmaße in verschiedenen Kulturen weitgehend frei gewählt worden sind, findet man überall als Zeitmaße das Jahr und den Tag. Wenn man hier allerdings selbst etwas genauer nachdenkt, dann wird dieser Unterschied etwas aufgeweicht: Die Längenmaße erscheinen zwar willkürlich, aber letztlich liegen ihnen menschliche oder natürliche Maße zugrunde: Der Fuß, die Länge einer Tagesreise (hier vor der Lichtgeschwindigkeit eine Beziehung zwischen Raum und Zeit!), das Meter (ursprünglich gedacht als der 40Millionste Teil des Erdumfangs).
Und die Zeitmaße Jahr und Tag sind nur deshalb so konstant, weil sie sich im Verlauf der menschlichen Zivilisation kaum geändert haben. Aber bereits zu Newtons und Leibniz Zeiten erkannte man das Schwanken der Tageslängen im Jahresverlauf. In der heutigen Zeit wissen wir außerdem, dass die Länge eines Tages kontinuierlich abnimmt, bezogen auf unseren heutigen Zeitmaßstab um etwa 15 Minuten je Tag je 100 Millionen Jahre. Ursache ist, dass sich der Mond durch die Gezeitenreibung langsam von der Erde entfernt und diese gleichzeitig an Drehimpuls verliert. Nachlesen kann man das im Detail in der Wikipedia:
Die
mittlere Entfernung zwischen dem Mond und der Erde wächst jährlich um etwa 3,8 cm.
Die allmählich zunehmende Entfernung ist eine Folge der Gezeitenkräfte,
die der Mond auf der Erde bewirkt. Dabei wird Rotationsenergie der Erde weit überwiegend in Wärme umgewandelt und zu einem Teil als Rotationsenergie auf den Mond übertragen. Der dabei abnehmende
Drehimpuls der Erdrotation resultiert in einer Zunahme des Bahndrehimpulses des Mondes, der sich dadurch von der Erde entfernt. Dieser schon lange vermutete Effekt ist seit 1995 durch die
Laser-Distanzmessungen abgesichert. Er bewirkt sowohl eine kontinuierliche Verlängerung der irdischen Tageslänge (um etwa eine Sekunde in 100.000 Jahren) als auch der Mondumlaufdauer.
Aber zurück zur Leibnizschen Ansicht von Raum und Zeit. Dadurch, dass Raum und Zeit relationale Beziehungen zwischen Dingen und Vorgängen bilden, leitet Leibniz unmittelbar seine „Auffassung vom zureichenden Grund“ ab:
Da nichts
ohne Grund geschieht, ist jeder neue Zustand mit dem vorhergehenden über ein mathematisches Gesetz verbunden. Durch jeden Augenblick einer Veränderung wirken die kausalen Verknüpfungen hindurch.
»Nach meiner Ansicht ist kraft metaphysischer Gründe alles im Universum derart miteinander verbunden, dass die Gegenwart stets mit der Zukunft schwanger geht und dass jeder Zustand nur durch den
unmittelbar vorausgehenden auf natürliche Weise erklärbar ist.« Leugne man dies, dann müsste es in der Welt Lücken geben, die das Prinzip des zureichenden Grundes umstießen und uns dazu zwängen,
für die Erklärung der Phänomene zu Wundern und zum bloßen Zufall Zuflucht zu nehmen.
Dass die Gegenwart »stets mit der Zukunft schwanger« geht, ist eine der
faszinierenden Implikationen der leibnizschen Metaphysik. Sie ist Ausdruck seines strengen Rationalismus und seiner tiefgründigen Auseinandersetzung mit Grenzübergängen. Unvermittelte
Zustandsänderungen könne es in der Natur nicht geben. Stattdessen gehe alles in gesetzmäßiger Folge aus einem Nacheinander hervor.
Da sich
die unendliche Folge auch im Hier und Jetzt nicht ausblenden lässt, erscheint die erlebte Gegenwart als Teil jener feingliedrigen Ordnung, die das unmittelbar Vorhergegangene und das Nachfolgende
einschließt. Zeit ist flüchtig. Das Jetzt existiert nur innerhalb einer Zeitreihe, und im Hinblick auf das Zukünftige ist die Richtung der Veränderung immer schon vorgegeben.
Ich finde es bemerkenswert, dass hier der Relationismus bezüglich Raum und Zeit mit einem strikten Determinismus gekoppelt ist. Die aktuelle Quantenphysik bringt hingegen einen Indeterminismus zurück, der sich allerdings vor einer Bühne aus absolutem Raum und absoluter Zeit abspielt. Wie vereinigt man das?
Zum Abschluss meines Beitrags noch einige Anmerkungen zur „Theodizee“, dem umfangreichsten Buch Leibniz (zum Begriff siehe die Wikipedia: Theodizee). Bekannt und häufig angegriffen ist darin die Aussage Leibniz: „Wir leben in der besten aller Welten.“ Das Theodizee-Problem wird häufig so formuliert: Wenn Gott uns liebt, wie kann er dann das offensichtliche Leid in der Welt zulassen? Ich habe das bisher immer so verstanden (wenn ich mich auf den Standpunkt eines Gläubigen gestellt habe), dass Leibniz damit meint, dass sich bestimmte Interessen eben gegenseitig ausschließen und (im Sinne etwa eines Utilitarimus) in der Summe das Bestmögliche herauskommt. Andere Lösungen als die realisierte hätten an anderer Stelle noch schlimmere Konsequenzen gehabt. Padova schreibt über Leibniz:
Leibniz meint, unsere Welt sei die an Prinzipien einfachste und an Vielfalt der Erscheinungen reichste. Alles andere stünde im Widerspruch zu Gottes Vollkommenheit. Damit Gott aber überhaupt etwas von sich Verschiedenes hätte schaffen können, müsse die Welt notwendigerweise auch ein gewisses Maß an Übel enthalten. Aus Sicht des Optimisten schließen diese Übel aber die Möglichkeit zur Vervollkommnung im Weltenlauf ein und werden durch die göttliche Gnade ausgeglichen.
Michael Springer hat in seiner eingangs bereits erwähnten Rension geschrieben: „Seit Langem hat mich kein Sachbuch so angenehm belehrt und vergnügt.“ Dieser Meinung kann ich mich anschließen.
Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann