„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Kritik am Funktionalismus

Der Funktionalismus behauptet, dass mentale Zustände letztendlich funktionale Zustände sind. Eine detaillierte Darstellung des F. findet sich hier.

Im oben verlinkten Aufsatz finden sich ebenfalls schon die Argumente für den Funktionalismus, sie sollen hier deshalb nur grob skizziert werden:

-       Für den Funktionalismus spricht, dass er eine ontologisch neutrale Analyse für die Bedeutung mentaler Ausdrücke liefert und das ohne jede Bezugnahme auf mentales Vokabular.

-       Für den Funktionalismus spricht, dass er dem begrifflichen Zusammenhang zwischen mentalen Zuständen (ich spüre schmerz; ich habe den Wunsch auf Heilung etc.) und Verhalten auf eine Weise Rechnung trägt, die auch die kausalen Interaktionen zwischen verschiedenen mentalen Zuständen berücksichtigt.

-       Für den Funktionalismus spricht, dass er – anders als die (klassische) Identitätstheorie – mit der Multirealisierbarkeit mentaler Zustände und damit auch mit der Möglichkeit von Einzelwissenschaften vereinbar ist. Damit vermeidet der Funktionalismus zugleich einen unangemessenen Speziesismus, demzufolge nur Menschen oder Lebewesen mit dem gleichen Zentralnervensystem mentale Zustände haben können.

-       Für den Funktionalismus spricht schließlich, dass er – wenn man ihn um eine entsprechende These ergänzt – eine akzeptable Version des Physikalismus (und auch der Identitätstheorie) darstellt.

Trotz all dieser unbestrittenen Vorzüge gibt es jedoch auch eine ganze Reihe von schwerwiegenden Argumente gegen den Funktionalismus:

1. Seltsame Realisierungen

Eine erste Gruppe von Einwänden geht auf Ned Block zurück, der in seinem Aufsatz "Troubles with Functionalism" (1978) für die These argumentiert, dass es Systeme geben kann, die zu uns funktional äquivalent sind (d.h., die dieselben funktionalen Zustände aufweisen wie wir), denen wir aber keine mentalen Zustände zuschreiben. Also, so Block, kann die Annahme nicht richtig sein, dass mentale Zustände allein durch eine kausale Rolle charakterisiert sind.

Diese These verdeutlicht Block u.a. mit einem berühmt gewordenen Gedankenexperiment:

Angenommen, wir überreden die Regierung Chinas zu einem riesigen Funktionalismus-Experiment. Jeder der eine Milliarde Menschen in China bekommt ein spezielles Funkgerät, mit der er jeden anderen Chinesen kontaktieren kann. Koordiniert wird das Ganze über riesige Scheinwerfer, die Kommandos an die Wolkendecke projizieren. Ein solches System aus Menschen, Funkgeräten und Scheinwerfern könnte, so Block, zumindest für eine kurze Zeit jeden funktionalen Zustand realisieren, den auch ein Mensch realisieren kann.

„Es ist keineswegs ausgemacht, dass dieses System aus der Bevölkerung Chinas und einem künstlichen Körper physikalisch unmöglich ist. Es könnte für eine kurze Zeit, sagen wir für eine Stunde, funktional äquivalent zu Dir sein.“

(Block 1978, 276)

Dennoch wäre es laut Block vollkommen absurd anzunehmen, dass ein solches System mentale Zustände hätte. Daher können funktionale Zustände und mentale Zustände nicht identisch sein. Blocks Einwand ist als der Einwand der "seltsamen Realisierungen" bekannt geworden. Falls Block und unser Bauchgefühl nicht daneben liegen, muss die These des Funktionalismus – mentale Zustände sind identisch zu funktionalen Zuständen – falsch sein oder zumindest unvollständig.

2. Externalismus

Hilary Putnam, der wie gesagt selbst einer der Begründer des Funktionalismus war, wurde gegen Ende seines Lebens selbst zu einem der einflussreichsten Kritiker dieser Position. Seine bekanntesten gegen den Funktionalismus gerichteten Argumente stehen im Zusammenhang mit dem externalistischen Slogan: „Gedanken sind nicht im Kopf“. Putnam versucht zu zeigen, dass ein Gedanke kein rein interner Zustand ist, sondern von der Gemeinschaft und Umwelt mitkonstituiert wird, der Funktionalismus also nicht hinreichend sein kann. Da aber funktionale Zustände interne Zustände sind, sei eine Identifikation von mentalen und funktionalen Zuständen nicht möglich. Putnam bietet zwei Argumente an:

1) Ulmen und Buchen: Putnam erklärt, dass er über Ulmen und Buchen jeweils nur wisse, dass sie Bäume seien. Das bedeute, dass die interne funktionale Struktur dieser Gedanken die gleiche sein könne. Dennoch sind die Gedanken „Die Ulme ist ein Baum“ und „Die Buche ist ein Baum“ verschieden, weil sie sich auf Verschiedenes beziehen. Wenn aber Gedanken verschieden sein können, obwohl die funktionale Struktur die gleiche ist, dann können Gedanken und funktionale Zustände nicht identisch sein.

2) Zwillingserde: Putnams zweites Argument basiert auf einem Gedanken-experiment: Er stellt sich einen Planeten vor, der unserer Welt bis ins Detail gleicht. Es gibt nur einen Unterschied: Was bei uns H20 ist, ist auf der Zwillingserde eine Substanz XYZ, die jedoch die gleichen Makroeigenschaften hat wie Wasser. Sie ist also flüssig, durchsichtig, geruchlos etc. Nun hat eine Person A auf der Erde die gleiche funktionale Struktur wie sein Zwilling B auf der Zwillingserde. Dennoch haben sie einige verschiedene Gedanken: A bezieht sich mit dem Gedanken „Wasser ist flüssig“ auf die Substanz H20, B mit dem gleichen Gedanken auf XYZ. Das Ergebnis: Da Personen mit gleicher funktionaler Organisation unterschiedliche Gedanken haben können, sind Gedanken nicht mit funktionalen Zuständen identisch.

3. Qualia

Weiterhin werden von Kritikern des Funktionalismus gemeinhin zwei zusammenhängende Argumente ins Spiel gebracht, die als das "Argument der vertauschten Qualia" ("inverted qualia argument") und das "Argument der fehlenden Qualia" ("absent qualia argument") bekannt geworden sind. Diese Argumente[4] sollen zeigen, dass mentale Zustände nicht einfach funktionale Zustände sein können, da sie Aspekte haben, die sich nicht auf kausale Rollen reduzieren lassen. Ausgangspunkt dieser Argumente ist die Überlegung, dass es für die kausale Rolle einer Empfindung letzten Endes keine Bedeutung haben kann, wie es sich "anfühlt", diese Empfindung zu haben (Qualia), ob sie mit dem einen oder anderen qualitativen Eindruck verbunden ist.

Das Argument der vertauschten Qualia geht so: Wir können uns vorstellen, dass bei einer Person, nennen wir sie Martine, aufgrund einer angeborenen Farbanamolie rote Dinge wie Tomaten, Feuerwehrautos und Mohnblumen Empfindungen auslösen, die nicht mit einem Rot-, sondern mit einem Grüneindruck verbunden sind - d.h. Empfindungen, die sich so anfühlen wie die Empfindungen, die bei uns durch Gurken, Gras und Laubfrösche ausgelöst werden; und dass umgekehrt Gurken, Gras und Laubfrösche bei Martine Empfindungen hervorrufen, die nicht mit einem Grün-, sondern mit einem Roteindruck verbunden sind. Da diese Farbanamolie seit ihrer Geburt besteht, hat Martine natürlich gelernt, die Empfindungen, die bei ihr durch Tomaten, Feuerwehrautos und Mohnblumen hervorgerufen werden, mit dem ´Wort´ "rot" und die Empfindungen, die bei ihr durch Gurke, Gas und Laubfrösche verursacht werden, mit dem ´Wort´ "grün" zu assoziieren. Auf die Frage "Welche Farbe haben Tomaten?" antwortet sie also ohne zu zörgern mit "Rot" und auf die Frage "Wie sehen Laubfrösche aus?" ebenso problemlos mit "Grün".

Offenbar haben also bei Martine die Empfindungen, die bei ihr mit einem Grüneindruck verbunden sind, dieselbe kausale Rolle wie bei uns die Empfindungen, die mit einem Roteindruck verbunden sind (und umgekehrt). Denn sie werden durch dieselben Dinge verursacht (Tomaten, Feuerwehrautos, Mohnblumen), die bei uns Rotempfindungen verursachen; und sie verursachen unter anderem dieselben verbalen Reaktionen, die bei uns von Rotempfindungen hervorgerufen werden. Also gehören Martines "Grünempfindungen" und unsere Rotempfindungen dem Funktionalismus zufolge ´zu demselben Typ´ mentaler Zustände Doch damit nicht genug: Martines "Grünempfindungen", d.h. die Empfindungen, die bei Martine mit einem Grüneindruck verbunden sind, sind dem Funktionalismus zufolge gar keine Grün-, sondern Rotempfindungen. Denn für einen Funktionalisten ist eine Rotempfindungen eben der mentale Zustand, der durch Tomaten, Feuerwehrautos und Mohnblumen verursacht wird und der seinerseits z.B. die sprachliche Reaktion "Tomaten sind rot" hervorruft - ganz unabhängig davon, welcher Eindruck mit diesem Zustand verbunden ist. Konsequenterweise ist es für den Funktionalisten daher letzten Endes sogar belanglos, ob ein mentaler Zustand ´überhaupt´ mit irgendeinem Eindruck verbunden ist, ob es sich überhaupt "irgendwie anfühlt", in diesem Zustand zu sein. Jeder Zustand, der die richtige kausale Rolle innehat, ´ist´ ein Rot-bzw. Grünempfindung - völlig unabhängig davon, welcher Eindruck mit ihm verbunden ist und ob überhaupt ein Eindruck mit ihm verbunden ist.

Diese Konsequenz, so die Vertreter der ´Argumente der vertauschten Qualia´, ist völlig absurd. Das Entscheidende an jeder Empfindung ist doch, wie sie sich anfühlt. Was einen mentalen Zustand zu einer Rotempfindung macht, ist also nicht seine kausale Rolle, sondern der mit ihm verbundene qualitative Eindruck, die Art und Weise, wie es sich anfühlt, in diesem Zustand zu sein. Martines "Grünempfindungen" sind daher tatsächlich Grünempfindungen und nicht etwa Rotempfindungen, auch wenn diese Empfindungen bei Martine die kausale Rolle innehaben, die normalerweise Rotempfindungen spielen. Kausale Rollen (funktionale Zustände) können deshalb nicht das entscheidende Merkmal mentaler Zustände sein. Der Funktionalist verfehlt genau das, was wirklich zählt.

Vertreter des Argumentes der fehlenden Qualia argumentieren ähnlich wie Ned Block: Es ist vorstellbar, dass es behaviorale und neuronal-funktionale Doppelgänger des Menschen gibt, die aber über kein phänomenales Bewusstsein (d.h. über keine Qualia) verfügen. Gemäß dem Funktionalismus müssten diese funktional-identische Wesen, die in der Fachdiskussion als "philosophische Zombies" gehandelt werden, aber auch über dieselben Qualia verfügen. Falls es also solche Zombies geben kann, muss der Funktionalismus falsch sein.

Ganz allgemein lässt sich kritisieren bzw. zusammenfassen, dass wenn alle mentalen Zustände funktionale Zustände sein sollten, dann auch Erlebnisse, wie etwa Schmerzen, funktionale Zustände sein müssen. Nun ist es zweifellos plausibel, dass auch etwa Schmerzen funktional zu beschreiben sind: Wer Schmerzen hat, wird in der Regel zu einem bestimmten Verhalten neigen – z. B. im Bett liegen, aber nicht tanzen – und auch bestimmte andere mentale Zustände haben – etwa Trauer, aber nicht Euphorie.

Die entscheidende Frage ist aber, ob mit der funktionalen Beschreibung das Phänomen Schmerz schon hinreichend charakterisiert bzw. vollständig erfasst ist. Und hier ergeben sich ernsthafte Zweifel: Sicherlich, die funktionale Charakterisierung ist ein wichtiger Teil des Schmerzes, doch ein anderes Element scheint ausgelassen zu sein: Das subjektive Schmerzerleben. Die Tatsache jedoch, dass wir Schmerzen erleben – also Schmerzqualia haben –, scheint durch eine funktionale Beschreibung in keiner Weise berücksichtigt zu werden. Der Vorwurf an den Funktionalismus ist daher, dass er nicht die Qualia bzw. Erlebnisgehalte der mentalen Zustände erklären könne. Es sei daher unklar, ob eine bestimmte funktionale Architektur hinreichend für Erleben sei. Daher erscheint es unplausibel, mentale Zustände mit funktionalen Zuständen gleichzusetzen (zur Veranschaulichung dienen die Argumente der vertauschten und fehlenden Qualia).

Trotz ihrer riesigen prima facie Plausibilität werden die Kritikpunkte um Qualia, wie überhaupt nahezu alles in der Philosophie, selbst wieder heftig kritisiert.

Einige Philosophen (wie z.B. Daniel Dennett) behaupten sogar, dass es Qualia gar nicht wirklich gäbe.

4. Die grundlegende Begrifflichkeiten

Die Position des Funktionalismus lässt auf die kurze Formel bringen, dass mentale Zustände wie Schmerzen oder Gedanken durch ihre jeweilig typischen kausalen Rollen charakterisiert sind. Also durch die Ereignisse außerhalb des Systems, durch die sie verursacht werden (inputs), durch das, was sie selbst außerhalb des Systems verursachen (outputs), und durch ihre kausalen Relationen zu anderen mentalen Zuständen. So weit, so gut. Was aber ist mit "außerhalb des Systems" gemeint, wo liegt die Grenze und was sind in diesem Kontext überhaupt inputs und outputs? Laut Beckermann (2008) sind hier mindestens drei Möglichkeiten denkbar:

1. Inputs sind die elektrochemischen Signale, die das Gehirn von Sinnesorganen erhält, und outputs die elektrochemischen Signale, die das Gehirn an die Muskeln schickt.

2. Inputs sind die physikalischen Reize, die von unseren Sinnesorganen verarbeitet werden (das in unsere Augen fallende Licht, die auf unsere Ohren treffenden Schallwellen, die Geruchsmoleküle, die unsere Nase erreichen, usw.) und outputs sind die Bewegungen unserer Gliedmaßen.

3. Inputs sind die verschiedenen Umweltsituationen, in denen wir uns befinden, und outputs sind die Veränderungen in unserer Umwelt, die wir durch unsere Handlungen hervorrufen.

Das Problem der Funktionalisten ist nun: Egal für welche dieser Möglichkeiten sie sich auch entscheiden, sie werden sich auf jeden Fall mit unliebsamen Konsequenzen konfrontiert sehen. (1) Die erste Möglichkeit impliziert beispielsweise einen Speziesismus. Denn nach ihr können nur solche Wesen mentale Zustände haben, deren Sinnesorgane die gleichen elektromagnetischen Signale erzeugen wie unsere, plus deren Effektoren durch die gleichen elektrochemischen Signale gesteuert werden wie unsere Muskeln. Wesen mit anders funktionierenden Sinnesorganen oder Effektoren (z.B. Cyborgs) werden damit von vornerein aus dem Kreis der mentalen Wesen ausgeschlossen. Der Einwand des Speziesismus gilt auch gegen die Auffassung (2), mit einer solchen Definition von "input" und "output" kann der Funktionalismus den Mental-Biologismus doch nicht überwinden. Und wie sieht es mit (3) aus? Auch diese Auffassung hat Probleme mit Lebewesen, deren Sinnesorgane anders funktionieren als unsere. Denn eine Fledermaus wird beispielsweise ganz anders auf dieselben Umweltreize reagieren als wir Mensch. Diese Probleme, die viele Funktionalisten dabei haben, input und output plausibel zu charakterisieren, hängen eng mit einem weiteren Kritikpunkt zusammen, der auf Stephen Schiffer zurückgeführt werden kann. Meiner Meinung nach zeigen diese von Beckermann aufgeführten Speziesismus-Probleme aber nur auf, dass der Funktionalist die Begriffe "input" und "output" ebenso unabhängig von einer ontologischen Realisierung charakterisieren muss.

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