„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Hilary Putnam über das Wunderargument

Hilary Putnam lieferte die meistzitierte Formulierung des Wunderarguments:

“[. . . ] the positive argument for realism is that it is the only philosophy that doesn’t make the success of science a miracle. That terms in mature theories typically refer [. . . ] that the theories accepted in a mature science are typically approximately true, that the same term can refer to the same thing even when it occurs in different theories — these statements are viewed by the scientific realist not as necessary truths but as part of the only scientific explanation of the success of science.”

Hilary Putnam; What is mathematical truth? In: Hilary Putnam; Mathematics, Matter and Method (1975), S. 73

Dieser Passus fasst die Grundidee beim Wunderargument ganz gut zusammen:

ExplanandumGrundidee: Es gibt bestimmte Leistungen oder Eigenschaften der Wissenschaft, die in einer ersten Annäherung als der "Erfolg der Wissenschaften" bezeichnet werden können und ein erklärungsbedürftiges Phänomen P darstellen.

 

ExplanansGrundidee: Der "wissenschaftliche Realismus" ist eine philosophische Hypothese H. Sie ist einzige Erklärung für P, die den Erfolg der Wissenschaft nicht zu einem "Wunder" macht, das heißt die einzige Erklärung für P schlechthin.

Das Wunderargument kann dabei als ein Schluss auf die beste Erklärung aufgefasst werden. Das heißt als eine Instanziierung dieses Inferenzschemas:

P1. P ist ein erklärungsbedürftiges empirisches Phänomen.
P2. Die Hypothese H1 erklärt P.
P3. Die Hypothese H1 erklärt P zufriedenstellend.
P4. Keine andere, verfügbare Hypothese H2,…Hn erklärt P so gut wie H1.
K1. Also: H1 ist wahr.

Stathis Psillos hat darauf hingewiesen, dass diese Grundidee bereits 1962 von Grover Maxwell und ein Jahr später von John Smart formuliert wurde.[1] Ohne die Verwendung der hiesigen Begriffe wie "Realismus" lässt sie sich in Ansätzen sogar bis in das 16. Jahrhundert auf Christoph Clavius zurückverfolgen.[2] Putnams Formulierung der Grundidee lieferte jedoch die Initialzündung für die moderne Debatte um das Wunderargument. Auf sie nahm lange Zeit beinahe jeder Autor, der nach Putnam etwas über das Wunderargument schrieb, Bezug.

 

Die folgenden Fragen sollen nachstehend beantwortet werden:

1. was versteht Hilary Putnam genau unter dem "wissenschaftlichen Realismus" und wie lässt sich dieser im ExplanansPutnam des putnamschen Wunderarguments explizieren?

2. was versteht Putnam unter dem "Erfolg der Wissenschaften" und wie lässt sich dieser im ExplanandumPutnam des putnamschen Wunderarguments explizieren?

 

3. wie überzeugend ist das so rekonstruierte WunderargumentPutnam?

1. Das Explanans

Aus dem oberen Zitat geht sehr klar hervor, dass Putnam unter dem "wissenschaftlichen Realismus" einen semantischen wissenschaftlichen Realismus versteht. Dieser lässt sich wie folgt definieren:

Der semantische wissenschaftliche Realismus besagt, dass:
(i) Die theoretischen Terme in wissenschaftlichen Theorien referieren der Absicht nach auf theoretische Entitäten.
(ii) Die theoretischen Terme in unseren reifsten Theorien referieren (zumindest typischerweise) tatsächlich auf theoretische Entitäten.
(iii) Unsere reifsten Theorien sind (in einem relevanten Sinne zumindest näherungsweise) wahr.

Beispiel: eine semantisch-realistische Auffassung kann darin bestehen, dass sich der theoretische Term "Elektron" in der (reifen) Quantenfeldtheorie tatsächlich auf Elektronen bezieht und die Quantenfeldtheorie deshalb annähernd wahr ist.

2. Das Explanandum

Was Putnam hingegen unter dem "Erfolg der Wissenschaften" versteht, geht aus dem oben zitierten Aufsatz "What is mathematical truth" nicht hervor. In einem später erschienenen Werk namens "Meaning and the Moral Sciences" geht es hierauf hingegen gleich mehrmals ein.

Die erste für uns relevante Passage ist diese hier:

„The modern positivist has to leave it without explanation (the realist charges) that "electron calculi" and "space-time calculi" and "DNA calculi" correctly predict observable phenomena if, in reality, there are no electrons, no curved space-time, and no DNA molecules. If there are such things, then a natural explanation of the success of these theories is that they are partially true accounts of how they behave. […] But if these objects don't really exist at all, then it is a miracle that a theory which speaks of gravitational action at a distance successfully predicts phenomena; it is a miracle that a theory which speaks of curved space-time successfully predicts phenomena; and the fact that the laws of the former theory are derivable "in the limit" from the laws of the latter theory has no explained methodological significance.“

- Hilary Putnam: Meaning and the Moral Sciences (1978), S. 18 – 19

[kursive Hervorhebungen von mir]

Hier bezeichnet Hilary Putnam mit dem "Erfolg der Wissenschaften" einen Prognoseerfolg, das heißt den Erfolg von wissenschaftlichen Theorien über unbeobachtbare Entitäten bei der Prognose von beobachtbaren Phänomenen. Es bleibt jedoch offen, was eine "Prognose" für Putnam genau sein soll. Für eine Rekonstruktion von WunderargumentPutnam, das sich im ExplanandumPutnam auf Prognoseerfolge bezieht, sind minimum zwei verschiedene Explikationen des Explanandums denkbar:

Eine Theorie T über unbeobachtbare Entitäten prognostiziert erfolgreich ein beobachtbares Phänomen p, gdw. gilt:
a1. Prognosebedingung: T
S (p) (sprich: T ableitbar Satz über p).
b. Erfolgsbedingung: S (p) ist wahr.

Eine Theorie T über unbeobachtbare Entitäten prognostiziert erfolgreich ein beobachtbares Phänomen p, gdw. gilt:
a2. Prognosebedingung: S (p) wurde aus T abgeleitet.
b. Erfolgsbedingung: S (p) ist wahr.

Diese beiden Explikationen unterscheiden sich in ihrer Formulierung der Prognosebedingung. Die Prognosebedingung a1 beschreibt eine zeitlose Ableitbarkeitsrelation, die Prognosebedingung a2 ein raumzeitliches Ableitungsereignis. Es ist, wie gesagt, nicht klar wie Putnam die Prognosebedingung verstanden haben möchte. Nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation schlage ich vor, ExplanandumPutnam mit der Prognosebedingung a1 zu explizieren. Denn ExplanandumPutnam soll nachher ja in einem Rechtfertigungskontext auftreten, für den es mir unerheblich zu sein scheint, ob S(p) aus T abgeleitet wurde oder nur ableitbar ist.

Eine Formulierung des ExplanandumPutnam steht jedoch noch vor einem weiteren Problem. Denn Putnam schreibt in "Meaning and the Moral Sciences" an noch zwei anderen Stellen über den Erfolg der Wissenschaft:

„[. . . ] science succeeds in [. . .] devising better ways of controlling nature [. . . ].
[. . . ] realism is an explanation of this fact.“
- ebd.
[kursive Hervorhebungen von mir]

„Let me try to unpack this notion [of ‘success’]. What ‘succeeds’ or ‘fails’ is not, in general, linguistic behavior by itself but total behavior. E.g. we say certain things, conduct certain reasonings with each other, manipulate materials in a certain way, and finally we have a bridge that enables us to cross a river that we couldn’t cross before. [. . . ] The explanation is that certain kinds of beliefs we hold tend to be true.“
- ebd., S. 100 - 101. [kursive Hervorhebungen von mir]

In diesen beiden Zitaten scheint Putnam eine Art "Handlungserfolg" der Wissenschaftler im Sinn zu haben. Leider bleibt dieses Mal völlig unbestimmt, was genau er darunter versteht und jede Lesart dieser Zitate daher zwangsläufig spekulativ. Wenn man also nicht ins Spekulative verfallen möchte, sollte man sich bei einer minimalen Rekonstruktion des Putnamnschen Wunderarguments im Explanandum daher nur auf Prognoseerfolge beschränken.

3. Das Putnamsche Wunderargument

Nun da wir sowohl ExplanansPutnam als auch ExplanandumPutnam expliziert haben, können wir das WunderargumentPutnam als ein Schluss auf die beste Erklärung rekonstruieren. Dafür ersetzen wie im Inferenzschema IBE die Variable H1 einfach durch "semantischer wissenschaftlicher Realismus" (im Sinne der Bedingungen (i) – (iii)) und die Variable P durch "Prognoseerfolge wissenschaftlicher Theorien" (im Sinne der Bedingungen a1, b): 

P1. Die Prognoseerfolge der wissenschaftlichen Theorien Tn sind ein erklärungsbedürftiges empirisches Phänomen P.
P2. Der semantische wissenschaftliche Realismus in Bezug auf Tn erklärt P.
P3. Der semantische wissenschaftliche Realismus in Bezug auf Tn erklärt P zufriedenstellend.
P4. Keine andere, verfügbare Hypothese H2,…Hn erklärt P so gut wie H1.
K1. Also: Der semantische wissenschaftliche Realismus in Bezug auf Tn ist wahr.

Kann das so rekonstruierte WunderargumentPutnam überzeugen? Die Antwort muss hier klar „Nein“ lauten! Sehen wir uns zum Beispiel dieses, von Alan Musgrave[3] angebrachte, historische Gegenbeispiel an: Im altertümlichen Babylon konnten Astronomen bestimmte Periodizitäten in astronomischen Phänomenen ausmachen. Anschließend entwickelten sie algebraische Regeln, um die Phänomene zu beschreiben, die unter denselben Typ wie das beobachtete Phänomen fallen. Aufgrund dieser Regeln konnten sie dann wahre Sätze über zukünftige Phänomene desselben Typs ableiten. Das ist bereits hinreichend für das Vorliegen eines ExplanandumsPutnam:

Die babylonische Astronomie Tb hat erfolgreich das astronomische Phänomen pa prognistiert, denn es gilt:
a1. Tb
S (pa)

b. S(pa) ist wahr.

Dieser "Prognoseerfolg" der babylonischen Astronomen lässt sich aber am besten dadurch erklären, dass diese einen bestimmten Phänomentyp P kannten und bei der Konstruktion von T „miteinbauten“. Deshalb konnten sie trivialerweise einen wahren Satz S(p) über das Phänomen p des Typs P aus T ableiten. Ihr Prognoseerfolg ist also – anders als Putnam und das Glauben lassen möchte - kein Argument für die Wahrheit der babylonischen Astronomie. Dieser Einwand kann nun noch generalisiert werden:

Einwand 1: Angenommen eine Theorie T wird bereits vor dem Hintergrund (zum Beispiel zur Beschreibung, Erklärung) der beobachteten empirischen Phänomene p1, p2, … pn konstruiert, die unter einen gemeinsamen Typ P fallen. Anschließend wird aus T deduktiv ein wahrer Satz S(pn+1) über das nächste zu erwartende Phänomen pn+1 des Typs abgeleitet, der sich in der Realität bewahrheitet. Das ist nach Putnam ein "Prognoseerfolg". Dieser erklärt sich aber am besten dadurch, dass T sozusagen gerade dafür konstruiert wurden war, um Phänomene des Typs P zu beschreiben. Der wissenschaftliche Realismus ist in diesen Fällen folglich nicht die einzige, noch nicht mal die beste Erklärung für das ExplanandumPutnam.

Fussnoten

[1] Stathis Psillos: Scientific Realism: How Science Tracks Truth. London. 1999, S. 70ff. Routledge, S. 70ff.

[2] Alan Musgrave: The Ultimate Argument for Scientific Realism. In: Robert Nola (ed.), Relativism and Realism in Sciences, Dordrecht: Kluwer. 1988, S. 230f.

[3] ebd., S. 231

[4] Martin Carrier: What is wrong with the miracle argument?, Studies in History and Philosophy of Science 22 (1991), S. 25f.

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