„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Die dritte Antinomie der reinen Vernunft (Kant)

Immanuel Kant diskutiert in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft vier sich logisch widersprechende Antworten auf die Fragen der Vernunft, die sog. Antinomien der reinen Vernunft.

Die dritte Antinomie ist im Hinblick auf die Diskussion um die Willensfreiheit von besonderem Interesse. Sie soll uns hier zuvorderst interessieren und setzt sich aus den zwei sich widersprechenden Vernunftannahmen zusammen:

(1) Determinismus-These: Alles in der Natur ist durch Gesetze und Anfangsbedingungen determiniert.
(2) Freiheits-Antithese: Es existieren Ursachen durch Freiheit, die nicht unter das Kausalprinzip fallen, sondern als "Spontanwirkungen" auftreten.

Wie es sich für eine ordentliche Antinomie gehört, lieferte Kant auch Beweise. Er untermauerte beide Behauptungen, indem er jeweils das Gegenteil ad absurdum zu führen versucht.

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

– Immanuel Kant: AA IV, 7[1]

1. Beweisführung

Für die Freiheits-Antithese und gegen den Determinismus spricht, dass ohne den spontanen Anfang von Kausalketten nichts in der Welt zustande käme, denn ein unendlicher Regress von Ursachen könne kein hinreichender Grund dafür sein, dass überhaupt etwas geschehe. Dieser erste Beweis steht und fällt mit dem leibnizschen "Prinzip des zureichenden Grundes", auf dem er beruht.

Eine durchschlagendere Wirkung hatte das Argument für die deterministische These. Spontanursachen, die ihrerseits durch nichts bewirkt seien, könne es danach ebenso wenig geben, da dies gegen die universelle Gültigkeit des Kausalprinzips verstoßen.

Kant selbst hielt seine Beweise für stichhaltig. Er war der Auffassung, er habe sowohl bewiesen, dass es Freiheit in der Welt geben könne, als auch, dass es keine Freiheit in der Welt geben könne. Den einzig denkbaren Ausweg aus der Antinomie sah er darin, dass es sich nicht beide Male um dieselbe Welt handeln könne. Er suchte den Ausweg in einer neuen Variante des Dualismus, den er selbst (im Vergleich zu den metaphysischen Systemen seiner Vorgänger, siehe u.a. der Cartesische Substanzdualismus) als vernunftskritisch geläutert verstand.

2. Bewohner zweier Welten

Kant unterscheidet zwischen einer "sinnlichen" und einer "intelligiblen" Welt. Das Kausalprinzip gilt in der sinnlichen (oder phänomenalen) Welt der Erfahrungen. Und die spontanen "Ursachen aus Freiheit" haben ihren Ort und Ursprung in der "intelligiblen" (oder noumenalen) Welt an sich. Der Mensch ist Bewohner dieser zwei Welten, selbst unser Ich unser Ich gehört ´beiden´ Welten an. Wie wir uns selbst erleben oder erfahren, das sind nach Kant ´innere´ Phänomene (der sinnlichen Welt); aber es sind immer noch ´Phänomene´, die Gegenstand der empirischen Psychologie (also Gegenstände der intelligiblen Welt) sind. ´Letztlich´ ist unser innerstes, ureigenstes Selbst jedoch noumenal - ein "Ding an sich", das uns selbst und der Psychologie völlig unzulänglich ist und das dennoch für "Ursachen aus Freiheit" sorgt, die über unsere Handlungen in der physischen Welt wirksam werden (siehe auch: Bieri-Trilemma).

Kants Dualismus der "sinnlichen" und der "intelligiblen" Welt ist natürlich auch wieder eine metaphysische Theorie. Unser "intelligibles" Ich ist danach eine Instanz hinter dem empirischen, subjektiv erlebten Selbst. Das noumenale Ich entziehe sich der Empirie und sei deshalb auch kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung. Kant erklärt nicht, was dieses Ich sein soll und wie es in der Welt verankert ist. Aber er zeigt auf, wie es in dieser Welt durch "Ursachen durch Freiheit" wirken könnte, ohne damit in einen Konflikt mit der Determinismus-These zu gelangen.

Nach Kant ist unser Ich gedoppelt. Wir können es von der empirischen Seite erfahren, d.h. durch unsere subjektiven Erlebnisse und mentalen Phänomene. Daneben gibt es aber auch einen noumenalen Urgrund des eigenen Ichs, und dieser bleibt uns nach Kant auf immer verborgen. Zwar kann es spontan Kausalketten in der Welt in Ganz setzen, die sich in Form von freien Willensakten äußern, aber dabei hinterlässt es in der sinnlich erfahrbaren, empirischen Welt der Phänomene keinerlei Spuren, außer der blanken Möglichkeit von Spontanursachen - und dem Kategorischen Imperativ der Moralphilosophie.  Der letztere ist die moralische Richtschnur unseres freien Willens.

3. Ein metaphysisches Postulat

Mit seinem Dualismus nimmt Kant ernst, dass mentale und physische Phänomene das sind, was ihre Namen besagen. Phänomene sind Sinneserscheinungen und keine „Dinge an sich“, sie liegen nicht genuin in der Welt vor, sondern entstehen erst in unserer Wahrnehmung als Dinge für uns. Kants Dualismus ist nicht der zwischen Geist und Natur, sondern der von Sinneserscheinungen und Dingen an sich – ein Dualismus von (geistigen und natürlichen) Phänomenen und ihrem unbekannten „intelligiblen“ Grund, was auch immer dieser sein mag.

Natürlich ist auch das eine metaphysische Theorie, im Vergleich zum kartesischen Dualismus jedoch eine relativ bescheidene. Kants Theorie vermeidet alle nicht-beweisbaren inhaltlichen Behauptungen über die geistige Substanz; und sie stellt klar, dass unser freier Wille nicht nach dem naturwissenschaftlichen Kausalprinzip in der Welt der mentalen und physischen Phänomene hineinwirkt. Wie unser Wille das schaffen soll, bleibt jedoch offen. Dabei ist der kantischen Metaphysik jedoch zugute zu halten, dass auch die Neurowissenschaft in dieser Frage bis heute trotz aller Erkenntnisfortschritte kein Quäntchen weiter ist. Immerhin kommt ein gravierendes Problem des kartesischen Dualismus nach Kants Ansatz gar nicht erst auf – nämlich die Frage, ob die Wirkung des Geists auf Materie nicht die Erhaltungssätze der Physik verletze.

4. zeitgenössische Rezeption

Kant hielt den Determinismus (der sinnlichen Welt) und einen freien Willen (in der intelligiblen Welt) für miteinander vereinbar. Er wird deshalb auch gerne als Kompatibilist betrachtet. Diese Einschätzung übersieht jedoch einen entscheidenden Aspekt: Für Kant bedeutet die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalprinzips gerade nicht, dass das Naturgeschehen durchgängig determiniert sein muss. Kant war kein Determinist, entgegen landläufiger Meinung zog er durchaus in Betracht, dass das Kausalprinzip innerhalb der Natur gar nicht lückenlos gilt. Er kann damit sogar als Libertarist angesehen werden.

Insgesamt wird Kants Lösung für die Antinomie von Determinismus und Freiheit zu wenig beachtet. Auch wenn ich persönlich nicht mit Kant übereinstimme, so ist der Status, den er dem Kausalprinzip zuordnet, in Hinblick auf die Debatte um den neuronalen Determinismus doch mehr als beachtenswert: Das Kausalprinzip, wonach es für jede gegebenen Wirkung eine Ursache geben muss[1], wird von Kant als ein Grundsatz unseres Verstandes angesehen, den wir notwendigerweise aller Naturerkenntnis zugrunde legen. Ihm war aber klar, dass es sich dabei nur um ein Prinzip von uns handelt – um eine Verfahrensregel, die wir im Alltag und in den Naturwissenschaften anwenden müssen, aber nicht zwangsläufig auch uneingeschränkt wirklich und empirisch gültig sein muss.

Wenn es Lücken im kausalen Naturgeschehen gibt, so kann sich unser Wille – wie auch immer er in die physische Welt hineinwirken mag – diese Kausalitätslücken zunutzen machen, um genau die Kausalketten im Naturgeschehen in Ganz zu setzen, die wir mit unseren Handlungen als Handlungsfolgen beabsichtigen. Es gibt Kant-Kenner, die Kants Sicht einer „Kausalität aus Freiheit“ in diesem Sinne verstehen.[2] Dann wäre Kant eben kein Kompatibilist, sondern Libertaririst, nach dem es einen freien Willen aber keinen kausalen Determinismus gibt. Was auch die richtige Kant-Lesart sein mag; für die Kompatibilitätsproblematik ist nur dies relevant: Wenn man das Kausalprinzip bloß als methodologisches Prinzip (und sonst nichts) betrachtet, so steht die Annahme, dass es für das Naturgeschehen uneingeschränkt gilt, nicht mehr im Widerspruch zur Annahme, dass wir in unseren Handlungen und in unserer moralischen Einstellung frei sein.[3]

Einzelnachweise

[1] Immanuel Kant: Die Kritik der reinen Vernunft. Auflage A (1781) und B (1787) Riga: Hartknoch.

[2] Michael Wolf: Freiheit und Determinismus bei Kant (2009).        

[3] Vgl. zu dieser Position etwa Geert Keil: Willensfreiheit (2007)­­­­. Berlin: de Gruyter.

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