„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Paul Hoyningen-Huene über das Abgrenzungsproblem

Teil 1: wissenschaftliches Wissen und Alltagswissen

Paul Hoyningen-Huene geht es in "Systematicity: The Nature of Science" v.a. um die Abgrenzung von wissenschaftlichem Wissen gegenüber Alltagswissen.

Er verwendet dabei den deutschen, weiteren Wissenschaftsbegriff. D.h. er schließt ausdrücklich auch die Formal, Geistes-, und Sozialwissenschaften mit ein.

Hoynigen-Huenes Systematizitätsthese lautet nun: Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten-, besonders von Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität. Diese These ist:

a. deskriptiv: sie bezieht sich auf die real existierenden Wissenschaften.

b. komparativ: sie besagt, dass wissenschaftliches Wissen über X  systematischer ist als anderes Wissen über denselben Gegenstandsbereich X.

Jedoch ist der Systemazitätsbegriff notorisch ungenau. Seine Präzisierung erfolgt über Gegenbegriffe wie u.a. "unmethodisch", "planlos" oder "ungeordnet".

Seine Konkretisierung kann erst in den neun Dimensionen erfolgen, in denen wissenschaftliches Wissen systematischer als andere Wissensarten sein kann: 

1.    Beschreibungen

2.    Erklärungen

3.    Vorhersagen

4.    Verteidigung von Wissensansprüchen

5.    Kritischer Diskurs[1]

6.    Epistemische Vernetztheit

7.    Ideal der Vollständigkeit

8.    Vermehrung von Wissen

9.    Strukturierung und Darstellung von Wissen.

Die Semantik des Systemazitätsbegriffes variiert nun sowohl in den neun Dimensionen, als auch in den verschiedenen (Sub-)Disziplinen und in der Zeit.

Diese Systemazitätsbegriffe und damit die wissenschaftlichen (Sub-)Disziplinen sind nur durch eine Familienähnlichkeit lose miteinander verbunden![2]

Hier nun ein Beispiel: Die Systemazitätsthese besagt folglich, dass eine wissenschaftliche Erklärung der menschlichen Psyche in irgendeiner Weise systematischer sein soll als eine alltagspsychologische Erklärung derselben.

Nun hatten wir gesagt, dass diese These zwar primär:

a*. deskriptiv ist, aus ihr lassen sich aber normative Konsequenzen ableiten. Denn die Erhöhung der Systematizität in einer Dimension schließt  tendenziell auch eine Verbesserung in dieser Dimension mit ein.[3]

b*. komparativ ist, sie lässt sich aber auch auf die Gegenstandsbereiche ausweiten, für die es nur wissenschaftliches Wissen gibt (schwarze Löcher?)  und die sich daher gar nicht mit anderen Wissensarten vergleichen lassen.

Aus a* folgt nun auch, dass wissenschaftliches Wissen nicht nur faktisch systematischer ist als andere Wissensarten. Es sollte eben das präskriptiv auch sein, wenn es anderen Wissensarten epistemisch überlegen sein möchte!

Aus dieser Erkenntnis lässt sich schließlich ein Abgrenzungskriterium formulieren:

Teil 2: Wissenschaft und Pseudowissenschaft

HH´s Abgrenzungskriterium: Ein kognitives Feld F ist wissenschaftlich, wenn F die Tendenz hat seinen Grad an Gesamtsystematizität zu erhöhen. Der Systemat-izitätszuwachs kann sich in einer oder mehrerer der 9 Dimensionen zeigen.[4]

Beispiel: Ein Wissenschaftler wird versuchen, die Systematizität einer empirischen Beschreibung zu erhöhen, indem er die Genauigkeit der Messinstrumente verbessert (oder mehr Datensätze heranzieht, etc. pp.).

Dieses Abgrenzungskriterium ist:

kontextabhängig: es bezieht sich ganz generell auf ein kognitives Feld.

- (zeitlich und disziplinär) lokal: es bezieht sich auf den jeweiligen Stand des jeweiligen kognitiven Feldes.

dynamisch: es bezieht sich auf die Entwicklung dieses kognitiven Feldes.

Hoynigen-Huene sieht sein Abgrenzungskriterium damit in Kontrast zu dem Poppers. Dieses hält er für kontextunabhängig, global, starr und unplausibel.

Wenn man also nachweisen möchte, dass ein kognitives Feld F* pseudowissenschaft ist, muss man zeigen, dass der Systematizitätszuwachs in F* in einem bestimmten Zeitraum t deutlich hinter dem Systematizitätszuwachs des korrespondierenden wissenschaftlichen Feldes F in t zurückbleibt.

Fußnoten

[1] Die Dimension "kritischer Diskurs" betrifft, anders als die anderen, nicht das wissenschaftliche Wissen, sondern die soziale Organisation der Wissenschaften.

[2] Damit unterläuft die Systemazitätsthese einem Einwand von Feyerabend Dieser hatte argumentiert, dass es nicht die eine "wissenschaftliche Methode" gibt und daraus geschlussfolgert, dass sich wissenschaftliche Felder überhaupt nicht von anderen kognitiven Feldern unterscheiden. Hoynigen-Huene kann darauf nun erwidern, dass sich wissenschaftliche Felder nicht in ihrer Methodizität sondern in ihrer Systemazität von anderen kognitiven Feldern unterscheiden, und das auch nicht starr sondern bloß lose.

[3] Hoynigen-Huene ist überzeugt, dass er mit dieser Behauptung keinen Sein-Sollen-Fehlschluss begeht. Denn in jeder der neun Dimensionen sei bereits ein normativer Gehalt angelegt. So schließt etwa der Begriff der Beschreibung bereits die Möglichkeit besserer oder schlechterer Beschreibungen mit ein.

 

Siehe auch

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