„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Der Versuch einer emergenztheoretischen Lösung des Messproblems

Wenn ein makroskopischer Messprozess unter denselben Bedingungen wiederholt wird, stellt sich immer dasselbe Ergebnis ein. Die Anfangsbedingungen determinieren also den Messzustand.

Bei einem mikroskopischen Messprozess kann es hingegen vorkommen, dass wiederholte Messungen unter exakt denselben Bedingungen zu verschiedenen Messergebnissen führen. Diese Abweichungen lassen sich nicht durch praktische Ungenauigkeiten der Messapparate oder eine theoretische Unvollständigkeit der Quantenmechanik begründen. Vielmehr lässt sich für jedes mögliche   Messergebnis nur eine Wahrscheinlichkeit in Form der Wellenfunktion angeben. Der endgültige Messzustand kann prinzipiell nur durch den Messprozess erkannt und nicht aus den Anfangsbedingungen abgeleitet werden.

Die Interpretationen der Quantenmechanik beschäftigen sich mit den ontologischen und philosophischen Konsequenzen u.a. aus dieser empirischen Erkenntnisgrenze. Die Kopenhagener Deutung geht davon aus, dass das Messergebnis erst durch den Messvorgang bestimmt wird. Der Aufenthaltsort eines Elektrons ist zum Beispiel vor der Messung verschwommen und durch die Wellenfunktion repräsentiert. Erst mit der Messung kollabiert diese Wellenfunktion und der Aufenthaltsort wird festgelegt. Die Übertragung dieser Deutung auf die für uns mit unseren Sinnen unmittelbar zugängliche Welt, hat zu solch markanten Sprüchen wie "Existiert der Mond auch dann, wenn keiner hinsieht?" oder Schrödingers berühmten Katze geführt.

Das seltsame an dieser Interpretation ist, dass Teilcheneigenschaften nach ihr bis zu dem Messvorgang keinen konkreten Wert haben sollen. Dieser Wert sei also nicht nur epistemologisch nicht feststellbar, sondern ontologisch unbestimmt. Meiner Meinung nach entsteht diese Seltsamkeit aber nur dadurch, dass man behauptet, das Teilchen hätte vor der Messung eine bestimmte Eigenschaft, und nur dessen Wert läge nicht fest. Wenn man aber den Aufenthaltsort oder den Spin nicht als eine Eigenschaft des Teilchens, sondern der Wechselwirkung des Teilchens ansieht, verschwindet die ganze Verwirrung. Das Teilchen erhält die Eigenschaft Spin mitsamt seines Werts erst im Moment der Wechselwirkung. Das bedeutet jedoch nicht, es gäbe keine festen Regeln, bei welchen Wechselwirkungen welche Eigenschaften entstehen, deren Werte gemessen werden können.

Ein Großteil der Eigenartigkeit der (Standardinterpretation der) Quantenmechanik verschwindet also, wenn man die gemessene Eigenschaft nicht als Teilcheneigenschaft betrachtet, sondern als Eigenschaft der mit dem Messvorgang einhergehenden Wechselwirkung zwischen dem messenden System und dem gemessenen Teilchen. Auch der Messvorgang und der mit ihm verbundene "Kollaps der Wellenfunktion" werden dadurch entmystifiziert: Vor dem Messvorgang gibt es zwei Systeme, das Messgerät und das zu messende Teilchen. Der Messvorgang vereinigt sie zu einem gemeinsamen. Das neuentstandene System besitzt neue Eigenschaften, eine davon ist die von uns gemessene. Oder anders formuliert: Die gemessene Eigenschaft besaß vor der Messung nicht nur keinen Wert, sondern existierte noch nicht. Die gemessene Eigenschaft ist keine Teilcheneigenschaft, sondern eine der Wechselwirkung.

Das heißt aber auch, dass es starke-emergente Eigenschaften in der Natur gibt. Eine Eigenschaft eines Systems ist genau dann stark-emergent, wenn sie auf der Ebene der einzelnen Systemkomponenten noch nicht vorliegt und erst durch die Interaktion dieser Komponenten untereinander auftritt. Sollten meine Überlegungen stimmen, so ist beispielsweise der Spin eine stark-emergente Eigenschaft des Messapparat-Quantenobjekt-Systems. Denn der Spin liegt noch auf der Ebene des Quantenobjektes (und auch nicht des Messaparates) vor, sondern entsteht bzw. emergiert erst durch deren Wechselwirkung miteinander.

Auch auf einem anderen Gebiet der Physik findet man einen Hinweis darauf, dass für die Informationen nicht die Menge der Teilchen, sondern die der Wechselwirkungen entscheidend ist. Laut der Beckensteingrenze ist die Informationsmenge einer bestimmten Masse nicht linear zu dieser, sondern quadratisch von ihr abhängig – ganz einfach, weil jedes Teilchen prinzipiell mit jedem wechselwirken kann (siehe hier). Dieser Zusammenhang ist essentiell für das Folgende.

Wenn wir also (anders als der Reduktionismus) davon ausgehen, dass bei der Entstehung zusammengesetzter Systeme die neuen Wechselwirkungen auch neue Eigenschaften hervorbringen können, dann werden selbstorganisierende und evolutionäre Mechanismen besser verständlich. Einige Aspekte sind besonders wichtig:

1. Die Möglichkeiten für die Entstehung emergenter Eigenschaften in komplexen Systemen werden durch die Naturgesetzlichkeiten für die einfachen Systeme eingeschränkt. Was auf einer der Ebene der Konstituenten physikalisch oder chemisch oder biologisch unmöglich ist, kann nicht entstehen.

2. Einige Eigenschaften der komplexen Systeme können bei der Analyse ihrer einfachen Teilsysteme nicht vorhergesagt werden. Das ist ein Charakteristikum emergenter Eigenschaften. Andererseits sind neue Eigenschaften nicht völlig willkürlich (siehe 1.), sodass man – zum Beispiel mit der Wellenfunktion – durchaus zu Wahrscheinlichkeitsaussagen gelangen kann, vor allem wenn die betreffenden Kompositionsvorgänge bereits häufiger beobachtet worden sind.

3. Versucht man aus den beobachteten Eigenschaften der komplexen Systeme ein Modell auf der Grundlage ihrer einfachen Komponenten zu bilden, kann man auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Das Beispiel mit der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik wurde bereits diskutiert. Die Stringtheorie könnte ebenfalls in diese Kategorie fallen: Man versucht, alle beobachteten Eigenschaften der Elementarteilchen in ein einziges Modell noch einfacherer Teilchen zu pressen und erhält mathematische Beschreibungen, die beliebige "Universen" beschreiben (~ 10^500), die mathematisch nicht mehr sinnvoll handhabbar sind und die sich empirisch nicht prüfen lassen. Ob es sich bei der Stringtheorie um die heißersehnte "Weltformel" oder nur um ein mathematisches Kuriosum handelt, kann empirisch folglich nicht entschieden werden.

Ein weiteres Beispiel könnte das Problem mit dem freien Willen sein: Betrachtet man die Zellen, aus denen ein Gehirn besteht, dann sollte das menschliche Verhalten neuronal-determiniert sein. Betrachtet man hingegen die Atome, aus denen sich die Zellen zusammensetzen, dann zufällig. Und das Gehirn selbst, der Mensch, ist, wenn nicht frei, dann doch durch Gründe und Wünsche gesteuert, die in keinem Neuron oder Atom stecken. Das Bewusstsein einer Person scheint auch eine emergente Eigenschaft des Gehirns zu sein, da sie zwingend weder aus den Eigenschaften seiner Zellen noch seiner Atome folgt. Es setzt eine Komplexität voraus, über die nur das gesamte Gehirn verfügt.

4. Es muss zwischen zwei verschiedenen Wahrscheinlichkeiten  unterschieden werden. Eine a priori Wahrscheinlichkeit gibt an, wie wahrscheinlich es ist, dass ein komplexes System aus einfachen entsteht. Die a posteriori Wahrscheinlichkeit besagt, wie gut ein System in seiner Umwelt bestehen kann. Es ist möglich, dass eine bestimmte Entwicklung sehr unwahrscheinlich ist, sich aber, wenn sie eingetreten ist, selbst erhält. Das erklärt die Wirkungsweise der Evolution und warum diese nicht nur ein biologisches Phänomen ist, sondern ein allgemeines Prinzip für die Entwicklung komplexer Strukturen aus einfachen Komponenten.

5. Wenn man annimmt, dass in komplexen Systemen neue und emergente Eigenschaften entstehen können, dann verliert ein Phänomen wie Abwärtsverursachung (oder ~kausalität) ebenso seinen mysteriösen Charakter. Die komplexen Strukturen sind wirkmächtig auch in Richtung der einfachen Strukturen: Nicht die Bewegung von Atomen und Molekülen bestimmt, wie Zellen funktionieren, sondern in Zellen laufen Vorgänge ab, die Moleküle erzeugen, bewegen und zerlegen. Nicht elektrische Signale im Gehirn beeinflussen, was der Träger des betreffenden Gehirns denkt und wie er handelt, sondern die Gedanken des Betreffenden verursachen seine Handlungen – und können dann natürlich auch physikalisch anhand seiner Hirnströme nachvollzogen werden.

6. Das Neue an diesem Erklärungsversuch besteht darin, dass es ein gemeinsames Prinzip auf allen Ebenen unserer Naturbeschreibung bietet. Die Quantenphysik ist nicht mehr mysteriös und schwer mit der "klassischen" Welt vereinbar, sondern folgt denselben Regeln wie alle anderen Beobachtungen, die wir über die Natur gemacht haben. Diese Interpretation zeigt auch die Grenzen, die den Naturwissenschaften gesetzt sind. Die übliche naturwissenschaftliche Methode ist die Zerlegung in Teilkomponenten oder die Abstraktion von Besonderheiten der EinzelfälleDas ist häufig sehr erfolgreich, aber manchmal gehen dabei die besonderen (emergente) Eigenschaften der komplexen Systeme verloren.

7. Dieses Prinzip erlaubt es, dass Neues im Universum entstehen kann, das noch nicht im Alten war. Ein komplexes System kann dann über neue Eigenschaften verfügen, wenn es sich aus Bestandteilen zusammenfindet, die bisher noch nicht in Verbindung waren. Die Begriffe "Wechselwirkung" oder "Interaktion" sind dabei nicht streng im physikalischen Sinne gemeint, sondern eher im alltagssprachlichen oder emergenztheoretischen Sinne. Wenn es also zwei Objekte A und B gibt, dann wechselwirken sie zunächst unabhängig voneinander nur mit sich selbst: A->A und B->B. Treffen sie aufeinander, dann bilden sie ein neues komplexeres Gebilde AB mit den zusätzlichen Wechselwirkungen (respektive Eigenschaften) A->B und B->A. Wie beim Verhältnis von Masse und Entropie ist das Verhältnis zwischen Objektgröße und Anzahl der Wechselwirkungen (Eigenschaften) quadratisch o.v.. Also ist auch die Anzahl der Eigenschaften von AB auch größer als die Summe der Eigenschaften von A und B.

Wechseln wir auf eine niedrigere Beschreibungsebene, dann ändert sich an diesem Prinzip grundsätzlich nichts. Das Objekt A setze sich aus den Komponenten a und b, das Objekt B aus den Komponenten c und d zusammen. Dann gibt es innerhalb von A die Wechselwirkungen a->a, a->b, b->a und b->b. Ananlog in B c->c, c->d, d->c und d->d. Werden A und B vereinigt, kommen hinzu: a->c, a->d, b->c, b->d, c->a, c->b, d->a und d->b. Unabhängig von der Ebene bleibt der quadratische Charakter erhalten, es ergeben sich also zwei theoretische Konsequenzen: Komplexere Objekte können neue Eigenschaften haben und bei der Zerlegung in ihre Konstituenten kommen diese Eigenschaften wieder abhanden.

Unser Gehirn besteht aus denselben Atomen wie das einer Fledermaus, dieses wiederum aus denselben wie ein Stück totes Fleisch oder Kohle. Aber die Wechselwirkungen sind jeweils andere und diese bestimmen den besonderen Charakter der einzelnen Objekte: Selbstbewusstsein, Bewusstsein,

Leben, etc.

Scheinbar unauflösbare Rätsel auf beliebigen Ebenen unserer Naturbetrachtung können so zum Verschwinden gebracht werden: Der freie WilleQualia, Intentionalität, Gedanken können nur erklärt werden (existieren) auf der Ebene von Personen, aber nicht, wenn wir die Eigenschaften einzelner Atome oder Neuronen betrachten. Kausalität, Lokalität und Realität können nur erklärt werden (existieren) auf der makroskopischen Ebene, aber nicht, wenn wir die Eigenschaften einzelner die makroskopische Welt konstituierenden Atome betrachten. Der Versuch eine Weltformel zu finden, führt (bereits mathematisch) in die Sackgasse, weil sie eine Welterklärung sucht (wo sind dort Menschen, Gedanken, Gefühle?), dabei aber mit zu kleinen Bestandteilen operiert, der Reduktionismus wäre gescheitert.

Wenn man bestreitet, dass neue Dinge im Universum entstehen können, wird die Beschreibung, wie die Welt funktioniert, nicht einfacher. Zum Beispiel müsste man dann behaupten, dass der Benzinmotor (oder der Tisch) nicht erfunden, sondern entdeckt worden wären. Und dass der zweite Weltkrieg bereits in den Atomen im Urknall "drinnensteckte".

Abschließend noch ein bereits angeklungenes Beispiel aus der Quantenmechanik: Ein häufig verwendetes Experiment im Zusammenhang mit dem EPR-Paradoxon und der Bellschen Ungleichung ist die Messung des Spins zweier verschränkter Teilchen. Bei einem Teilchenzerfall entstehen zwei neue Teilchen, die aufgrund eines Erhaltungssatzes entgegengesetzte Spins haben müssen. Bis zur Messung sind diese unbekannt. Die exerimentell bestätigte Aussage der Bellschen Ungleichung ist, dass die Messung des Spins eines Teilchens den Wert des Spins des zweiten verschränkten Teilchens festlegt.

Interpretieren wir den ungemessenen Spin mit der Kopenhagener Deutung als Teilcheneigenschaft, bleibt die instantane Festlegung des Spins des zweiten Teilchens bei der Messung des Spins des ersten rätselhaft. Nach der hier vorgestellten Interpretation ist die Annahme eines Spins der Teilchens vor der Messung desselben aber eine sinnlose metaphysische Spekulation. Erst mit der Messung erfahren wir etwas darüber und haben dann zugleich einen gültigen Wert. Die Instantanität ist nicht mehr rätselhaft, nach der Messung bilden das Messsystem und beide Teilchen ein neues gemeinsames System, in dem der Spin im gesamten System bekannt ist. Vor der Messung "wusste" das Messsystem nur, dass es bei der Beobachtung eines Teilchens ein zweites mit komplementären Eigenschaften geben muss, weil das Paar durch ein Verschränkungsexperiment entstehen würde. Nach der Messung werden die bereits bekannten Größen (z.B. die Gesamtmasse) durch weitere ergänzt.

Was in diesem Beispiel für den Spin angenommen wurde, gilt im Übrigen auch für alle übrigen physikalischen Größen, z.B. für die Masse. Zerfällt ein massebehaftetes Teilchen in zwei kleinere massebehaftete Komponenten und sind verschiedene Zerfallsergebnisse möglich, dann liegt mit der gemessenen Masse eines Teilchens instantan auch die Masse des zweiten fest. Vor der Messung haben wir anhand der Wellenfunktion für mögliche Zerfallsergebnisse nur Wahrscheinlichkeiten für die Masseverteilung.

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