Emergenz ist ein Merkmal von Entitäten (Strukturen, Substanzen, Gesetze, insb. Eigenschaften), für das es keine einheitliche Definition gibt.
Meistens spricht man von Emergenz in Bezug auf Eigenschaften.
Daher kann eine allgemeine Arbeitsdefinition lauten:
Die Eigenschaft E ist eine emergente Eigenschaft des Gesamtsystems S mit den Teilen B1, B2,... Bn, gdw. E bei S, aber nicht bei B1, B2,... Bn aufzufinden ist.
Frage 1: Warum ist E bei S, aber nicht bei den Teilen B1, B2,...Bn aufzufinden?
ontologische Emergenz: weil E bei B1, B2, ... Bn nicht vorliegt.
epistemische Emergenz: weil E bei B1, B2, ... Bn nicht erkannt wird.
Frage 2: Ist die Eigenschaft E von S durch B1, B2, ... Bn reduktiv erklärbar?
starke Emergenz: E ist nicht durch B1, B2, ... Bn reduktiv erklärbar.
schwache Emergenz: E ist durch B1, B2, ... Bn reduktiv erklärbar.
Frage 3: Tritt die Eigenschaft E von S gleichzeitig mit oder nach B1,B2,... Bn auf?
synchrone Emergenz: E tritt gleichzeitig mit B1, B2, ... Bn auf.
diachrone Emergenz: E tritt nach B1, B2, ... Bn auf.
a. epistemische Emergenz: Die Existenz von epistemischer Emergenz ist:
- unbestritten, da es natürlich Eigenschaften von Systemen S gibt, die noch nicht mit den Eigenschaften der Teile B1, B2, ... Bn identifiziert werden können.
- dann uninteressant, wenn sie nur auf einer momentanen Unkenntnis beruht.
Beispiel: Die Temperatur eines Gases konnte vor dem 17. Jahrhundert nicht mit der mittleren Bewegungsenergie der Moleküle des Gases identifiziert werden.
b. ontologische Emergenz: Die Existenz von ontologischer Emergenz ist:
- relativ unbestritten, da es vermutlich Eigenschaft von S gibt, die nicht mit den Eigenschaften der Teile des Systems B1, B2, Bn identisch sind.
- interessant, da S bzw. das Ganze dann mehr ist als die Summe seiner Teile!
Beispiel: Das charakteristischen Rippelmuster im oberen Bild ist eine Eigenschaft von Sandwüsten, die nicht den konstitutiven Sandkörnern B1, B2, Bn zukommt.
Also: Die Wüste ist ein Träger der Eigenschaft "ein Rippelmuster besitzen" und damit mehr als die Summe ihrer Sandkörner, obwohl sie nur aus diesen besteht!
a. schwache Emergenz: Die Existenz von schwacher Emergenz ist:
- unbestritten, da es natürlich Eigenschaften von Systemen gibt, die z.B. durch die Eigenschaften der Konstituenten in Isolation, ihrem raumzeitlichen Arrangement und ihren Wechselwirkungen mikroreduktiv erklärt werden können.
- relativ interessant, wenn es sich um ontisch-schwache Emergenz handelt. Denn dann ist E mehr als die Summe seiner Teile,- aber durch diese erklärbar!
Beispiel: ein Kanditat für schwach-ontische Emergenz ist Schwarmverhalten:
System S: Schwarm.
Bestandteile B von S: Tiere (Vögel, Fische, o.ä.).
Eigenschaft E von S: weißt ein Schwarmverhalten auf.
E ist eine ontisch-emergente Eigenschaft von S, weil "weißt ein Schwarmverhalten auf" dem Schwarm, aber keinem Tier in Isolation zukommt.
Und E ist eine schwach-emergente Eigenschaft von S, weil sich die Eigenschaft "weist ein Schwarmverhalten auf" durch die Eigenschaften der Tiere in Isolation erklären lässt. Denn jedes Tier folgt grob vier Gesetzen (Annahme):
E2. Folgen: Folge dem Tier vor dir.
E3. Alignment: Bewege dich in die gleiche Richtung wie deine Nachbarn.
E4. Abstoßung: Wenn dir ein anderes Tier zu nahe kommt, weiche aus.
E5. Anziehung: Lass den Abstand zwischen dir und deinen Nachbarn nicht zu groß werden.
Die Eigenschaften E2 - E5 der Tiere erklären die Eigenschaft E des Schwarms.
weiteres Beispiel: Adams Smiths "unsichtbare Hand" ist ebenfalls eine selbstorganisierende Eigenschaft von freien Märkten, die keinem Teilnehmer der Märkte in Isolation zukommt, aber durch ihr Verhalten erklärt werden kann.
b. starke Emergenz: Die Existenz von starker Emergenz ist:
- sehr umstritten, da es naheliegt, dass die Eigenschaft eines jeden Systems S durch die Mikroeigenschaften seiner Teile B reduktiv erklärt werden können.
- sehr interessant, da sie zur Folge hätte, dass das gesamte Universum nicht durch kleinste Teilchen und Felder erklärt werden kann bzw. dass das logisch-empiristische Programm der Einheitswissenschaften zum Scheitern verurteilt ist.
Beispiel: ein heißer Anwärter sind mentale Eigenschaften mit Erlebnisgehalt.
System S: Die Person P.
Bestandteile B von S: Physische Konstituenten (Neuronen, Atome, o.A.).
Eigenschaft E von S: nimmt die Farbe Rot wahr.
E ist eine ontisch-emergente Eigenschaft von S, weil keinem Neuron oder Atom in Isolation die Eigenschaft E "nimmt die Farbe rot wahr" zukommt.
E ist eine stark-emergente Eigenschaft von S, weil aus keinem Gesetz der Physik oder Neurobiologie und auch aus keinem Brückengesetz folgt, dass sich die Eigenschaften der Bestandteile auf die für E charakteristische Weise anfühlen.
Weitere Anwärter für stark-emergente (und ontisch-emergente) Eigenschaften:
Eigenschaften von lebenden Systemen: siehe: Organiszismus, Vitalismus.
Eigenschaften von verschränkten Quantensystemene. siehe: Quantenholismus.
Philosophisch interessant und brisant sind also insbesondere die ontologische und die starke Emergenz. Vor allem diese weisen oft die folgenden Merkmale auf:
i. Abwärtskausalität: S sei eine soziale Gruppe aus den Teilnehmern B und mit der Eigenschaft E "Massenpanik". Dann wirkt E kausal auf B ein.
ii. Eigenständigkeit: S sei eine Gruppe aus den Teilnehmern B und mit der emergenten Eigenschaft E "Massenpanik". Dann ist E eigenständig gg. B.
iii. Hierachie von Existenzstufen: S sei (H1) eine soziale Gruppe, die aus (H2) Personen, (H3) Zellen, (H4) Moleküle, (H5) Atome und (H6) Elementarteilchen bestehen. Dann bilden (H1)-(H6) die Existenzstufen von S.
iv. Holismus: S sei ein System mit der ontisch-emergenten Eigenschaft E, die bei den Teilen B von S nicht vorliegt. Dann ist S ein holistisches System.
v. Irreduzibilität: S sei eine Person aus den Teilen B und der stark-emer-genten Eigenschaft E "Rotwahrnehmung". Dann ist E nicht auf B reduzierbar.
vi. Physikalismus: S sei eine Person aus physischen Teilen B und mit der Eigenschaft E "Wut". Dann wird S (nichtreduktiv-)physikalistisch begriffen.
vii. spontane Ordnung: S sei ein Schwarm von Tieren und der Eigenschaft E "Schwarmverhalten". Dann erzeugt E eine spontane Ordnung in S.
viii. Supervenienz: S sei eine Person mit der mentalen Eigenschaft E "Rotwahrnehmung", die naturgesetzlich von den physischen Eigenschaft F der Person abhängt. Dann superveniert nomologisch E über F.
ix. Unvorhersagbarkeit: S sei ein System aus den Teilen B und mit der stark-emergenten Eigenschaft E. Dann ist die Eigenschaft E des Systems S qua definitionem nicht allein aus der Kenntnis der Teile B vorhersagbar.
Anmerkung: Kritiker sehen ein Spannungsverhältnis zwischen ii. und viii.
a. synchrone Emergenz: Die Existenz von synchroner Emergenz ist:
- unbestritten, alle bisherigen Beispiele, wie das Schwarmverhalten oder die Farbwahrnehmungen von Personen, betrafen synchron-emergente Eigenschaften.
- nicht weiter interessant, entsprechend kommt kein weiterer Aspekt hinzu.
b. diachrone Emergenz: Die Existenz von diachroner Emergenz ist:
- unbestritten, da es zB bei der kosmischen oder biologischen Evolution evident scheint, dass die Genese von Systemen neue Eigenschaften hervorbringen kann.
- interessant, da die Interaktion der Bestandteile B1, B2, ... Bn verständlich machen kann, wie selbst in einem geschlossenen System Neues entstehen kann!
Beispiel: Die Entwicklung allen Seins.
System S: Das Universum.
Bestandteile B von S zu t1: kein Element schwerer als Beryllium.
Eigenschaft E von S zu t2: aus einem schwereren Element als Beryllium sein.
E ist eine schwach-emergente Eigenschaft von S, da die Entstehung von E durch die Interaktion der Bestandteile von S nach t1 in den ersten Sternen erklärt werden kann. Schwache Emergenz ist charakteristisch für diachrone Emergenz.
E ist eine diachron-emergente Eigenschaft von S, da die Entstehung von E durch B nicht instanten geschah, sondern sich über eine Zeitspanne t1 - t2 zog.
Weitere Beispiele: alle systemischen Eigenschaften von komplexen Systemen!
siehe: Exklusionsargument
siehe: Pro- und Contra Reduktion
Stand: 2019
Philoclopedia (Mittwoch, 14 August 2019 16:16)
https://youtu.be/pb4YoMjcYM4
Wissenswert (Sonntag, 10 Dezember 2017 15:47)
Emergenz ist ein faszinierendes Phänomen. Das Zusammenspiel von Sandkörnern, Neuronen und Atomen schafft Systeme wie Sanddünen, Gehirne oder Zellen. Diese Systeme besitzen Eigenschaften wie Oberflächenstrukturen, Bewusstsein oder Leben, die auf der Ebene der konstitutiven Komponenten noch nicht vorliegen, was diese Systeme zu mehr macht als nur die Summe ihrer Teile.
WissensWert (Freitag, 26 Mai 2017 04:31)
wie entsteht eine lebende Zelle aus simplen biochemischen Reaktionen? Oder eine komplexe Schwarm-Formation aus simplen Steuer-Regeln in Vogelhirnen? So! :D
Emergenz! Komplexe Muster entstehen ohne Absicht,ohne Planung, einfach durch die Multiplikation einfacher Basis-Systeme.
https://youtu.be/XH-groCeKbE
Wie entsteht Leben aus einfachsten biochemischen Reaktionen? Wie entsteht eine komplexe Reizverarbeitung aus relativ einfachen Nervenzellen?
Aus dem Zusammenspiel vieler Einzelsysteme geht ein Gesamtsystem mit ganz neuen Eigenschaften hervor (Emergenz).
WissensWert (Freitag, 26 Mai 2017 04:29)
https://www.academia.edu/296081/Reduktion_und_Emergenz_2007_
WissensWert (Freitag, 26 Mai 2017 04:29)
https://www.sapereaudepls.de/was-kann-ich-wissen/philosophie-des-geistes/identit%C3%A4tstheorie/
Zwischen Smarts beabsichtigter Typ-Identitätstheorie und einer Token-Identitätstheorie besteht der wesentliche Unterschied, dass Erstere reduktionistisch ist: Sie möchte unsere mentalen Zustände durch Rückführung auf eine andere Theorie verständlicher machen, so wie die Rückführung von Wasser auf den gesamten Erklärungsapparat von Physik und Chemie auf Wasser anwendbar macht. Wenn mentale Zustände typ-identisch mit Gehirnzuständen sind, so lässt sich die Psychologie schließlich auf die Neurowissenschaft zurückführen. Bei Token-Identität ist dies jedoch nur noch eingeschränkt möglich, da jedes Gehirn sich in seiner Realisierung von jedem anderen Gehirn unterscheidet. Eine Token-Identitätstheorie ist demnach nicht-reduktionistisch.
Trotz dieser Probleme gibt es heute eine gewisse Renaissance der Identitätstheorie, welche vor allem Jaegwon Kim zu verdanken ist.
Die Identitätstheorie erhält Auftrieb dadurch, dass das physikalische Konzept der Materie und ihrer Wechselwirkungen erkennbar nicht abgeschlossen ist. Daraus erwächst die Hoffnung, dass sich aus zukünftigen Erweiterungen des physikalischen Verständnisses möglicherweise auf direktem Wege die Emergenz der neuen „Dimension“ des Bewusstseins ableiten lässt.
WissensWert (Freitag, 26 Mai 2017 04:21)
Der Begriff der Emergenz wurde in den 1920er Jahren im Zusammenhang mit einer spezifischen Reduktionsproblematik der Evolutionstheorie prominent. Der ->Mechanizismus behauptete die gänzliche Reduzierbarkeit biologischer Phänomene auf die Physik, während der ->Vitalismus für lebendige Organismen spezifische Vitalkräfte annahm, die der unbelebten Natur fremd waren. Allerdings war der Mechanizismus unbefriedigend, weil nicht klar war, wie er genau für die Lebensphänomene aufkommen konnte; der Vitalismus war unbefriedigend, weil seine Vertreter für die behauptete Andersartigkeit der belebten Materie keine überzeugenden empirischen Belege anführen konnte. In dieser Situation wurde eine zwischen diesen Polen liegende Position gesucht, die zwar den wissenschaftlich unabweisbaren Materialismus beibehielt, aber Entwicklungsmöglichkeiten des Lebens bis hin zu Bewusstsein und Geist zuließ. Genau dies sollte der Begriff der Emergenz leisten. Er sollte auf das Potential der Materie hinweisen, in neuen Konstellationen grundsätzlich neue Eigenschaften hervorzubringen, die aus der Kenntnis der vorangegangenen Konstellationen nicht vorhersehbar seien. Die gleiche Problemkonstellation trat in den 1970er Jahren in der ->Philosophie des Geistes auf. Einerseits erscheint die Materialität des Gehirns als unausweichlich, andererseits erscheinen die von ihm hervorgebrachten Bewusstseinsphänomene als immateriell. Wieder sollte der Begriff der Emergenz die Spannung überbrücken.