Unterbestimmtheitsargumente

Ein Unterbestimmtheitsargument ist primär ein skeptisches Argument.[1]

Dabei kann ein Unterbestimmtheitsargument:

1. Mit unterschiedlichen skeptischen Hypothesen wie z.B. "Wir leben in einer Dämon-Welt" oder "Wir sind Gehirne im Tank" ausbuchstabiert werden.

2. Einen Wissens- oder einen Rechtfertigungsskeptizismus stützen.

3. Sich gegen verschiedene Bereiche von Wissen oder Rechtfertigung richten.

Hier soll ein ein Unterbestimmtheitsargument (1) für die skeptische Hypothese "Wir sind GiT" und gegen (2) Wissen (3) über die Außenwelt formuliert werden.

Dabei sei: "GIT" die skeptische Hypothese "Ich bin ein Gehirn im Tank und meine Außenwelt wird mir nur imaginiiert"; "p" eine beliebige Überzeugung über die Außenwelt wie z.B. "Meine Mutter ist real" und "G" alle meine Gründe für p wie z.B. "Ich sehe meine Mutter vor, habe Erinnerungen von ihr, usw. usf."

Dann lauter die Standardversion des Unterbestimmtheitsargumentes:[2]

P1. Wenn G p epistemisch nicht vor GiT auszeichnet, dann rechtfertigt G nicht p.
P2. Meine Gründe G für p zeichnen p epistemisch nicht vor GiT aus.
K1. Also: Meine Überzeugung, dass p, ist nicht gerechtfertigt.
K2. Also: Ich weiß nicht, dass p.

Um von P1. und P2. auf K1. zu schließen, muss man voraussetzen, dass alle Rechtfertigung evidentiell ist, d.h. dass alle Rechtfertigung auf Gründen beruht:

Evidenzprinzip für Rechtfertigung: Für alle S, p, q: Wenn S’ Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist, dann ist seine Überzeugung allein anhand von Gründen/Evidenzen gerechtfertigt.

Und um von K1. Auf K2. zu schließen, muss man voraussetzen, dass Rechtfertigung eine notwendige Bedingung für Wissen ist:

Rechtfertigungsprinzip für Wissen: Für alle S, p, q: Wenn S weiß, dass p, dann ist S’ Überzeugung, dass p, gerechtfertigt.

Das Unterbestimmtheitsargument muss also um zwei Prämissen ergänzt werden, um logisch gültig zu sein:

P1. Wenn G p epistemisch nicht vor GiT auszeichnet, dann rechtfertigt G nicht p.
P2. Meine Gründe G für p zeichnen p epistemisch nicht vor GiT aus.

P3. Evidenzprinzip der Rechtfertigung: Wenn G p nicht rechtfertigt, dann ist p überhaupt nicht gerechtfertigt.
K1Also: Meine Überzeugung, dass p, ist nicht gerechtfertigt.

P4. Rechtfertigungsprinzip für Wissen: Wenn meine Überzeugung, dass p, nicht gerechtfertigt ist, dann weiß ich auch nicht, dass p.
K2Also: Ich weiß nicht, dass p.

1. Kritische Beurteilung

Dieses Argument ist nun logisch gültig. Es kann aber kritisiert werden, indem u.a. eines der beiden zuvor vorgestellten Prinzipien zurückgewiesen wird.

Dabei gilt generell:

·        Rechtfertigungs-Externalisten lehnen das Evidenzprinzip ab.

·        Wissens-Externalisten lehnen das Rechtfertigungsprinzip ab.[3][4]

Wenn aber sowohl das Evidenzprinzip als auch das Rechtfertigungsprinzip akzeptiert werden, ist das Argument in seiner Standardversion formal gültig. In diesem Fall muss man sich fragen, ob die Prämissen P1. und P2. wahr sind.

1.1. Prämisse 1

Prämisse 1 beruht auf dem Prinzip, von dem das Argument seinen Namen hat:

Unterbestimmtheitsprinzip: Für alle S, p, q: Wenn S’ Gründe für ihre Überzeugung, dass p, p nicht vor der inkompatiblen Alternative q epistemisch auszeichnen, dann rechtfertigen S’ Gründe die Überzeugung, dass p, nicht.

Frage: Was bedeutet hier "epistemisch auszeichnen"?

Antwort: Gründe G zeichnen p vor q epistemisch aus, gdw. sie eher für die Wahrheit von p als für die von q sprechen, und es daher für S im Lichte dieser Gründe aus epistemischer Sicht rationaler ist von p überzeugt zu sein als von q.

Wenn nun aber meine Gründe G p nicht vor der inkompatiblen Alternative q auszeichnen, dann bin ich auf der Basis von G bestenfalls in ›p v q‹ gerecht-fertigt. Es gibt für mich keinen Grund, eines der beiden Disjunkte vorzuziehen.

Das Unterbestimmtheitsprinzip ist in dieser Hinsicht sehr plausibel: Denn wenn S’ Gründe für die Überzeugung, dass p, p nicht vor der inkompatiblen Alternative q epistemisch auszeichnen, so ist S bestenfalls in der Überzeugung, dass p oder q, aber nicht in der Überzeugung, dass p, gerechtfertigt.

1.2. Prämisse P2

Prämisse P2 beruht auf einer Grundannahme hinter skeptischen Szenarien.

Ein skeptisches Szenario S (wie: "Wir sind Gehirne im Tank") ist so konstruiert: 

Wenn ich mich nicht in S befinde, d.h. wenn p wahr und GiT falsch ist, verfüge ich über bestimmte Gründe G für p. Wenn ich mich aber tatsächlich in S befinde, d.h. wenn p unwahr und GiT wahr ist, verfüge ich ebenfalls über die Gründe G für p.

Beispiel: Wenn ich mich nicht in einem skeptischen Szenario befinde, wenn meine Mutter also real ist und ich kein Gehirn im Tank bin, dann verfüge ich über bestimmte Gründe G (ich sehe meine Mutter, habe Erinnerungen von ihr, etc.) für meine Überzeugung p, dass meine Mutter real ist. Wenn ich mich aber in einem skeptischen Szenario befinde, wenn ich also ein Gehirn im Tank bin und meine Mutter nicht real ist, dann verfüge ich über dieselben Gründe G für p. Denn dann imaginieren mir Elektroden, dass ich meine Mutter sehe, Erinnerungen habe, etc.

Wenn G nicht garantieren kann, dass p (wahrscheinlicher) wahr ist und p und GiT sich ausschließen, dann kann G p folglich nicht vor der GiT auszeichnen.

Die Prämisse P2 ist in dieser Hinsicht also auch sehr plausibel!

Aber: Diese Sicht stützt sich auf zwei interessanten Annahme:

(i) Im GiT-Fall und im p-Fall verfügt S über die gleichen Gründe.
(ii) Wenn S’ Gründe die Wahrheit von p nicht garantieren, dann zeichnen diese Gründe p nicht vor der damit inkompatiblen Alternative GiT aus.

Die Annahme (i) ist prima facie sehr plausibel. Trotzdem wird sie von den sogenannten epistemischen Disjunktivisten verneint.[5][6][7][8][9]

Der epistemische Disjunktivismus behauptet, dass auch wenn S aus erstpersonaler Perspektive die Gründe im p-Fall und GiT-Fall nicht unterscheiden kann, das nicht heißt, dass in beiden Fällen die gleichen Gründe vorliegen. 

Beispiel: Meine Grund G für p "meine Mutter ist real" im p-Fall sei meine visuelle Wahrnehmung meiner Mutter. Mein Grund G für p im GiT-Fall ist dahingegen keine echte, sondern nur eine imaginiierte Wahrnehmung meiner Mutter. Auch wenn ich aus erstpersonaler Perspektive echte und perfekt imaginiierte Wahrnehmungen nicht voneinander unterscheiden kann, liegen im p-Fall und im GiT-Fall doch unterschiedliche Gründe für p vor.

Auf diese Weise bestreiten epistemische Disjunktivisten die Annahme (i).

Die Annahme (ii) ist bereits prima facie sehr unplausibel! Sie scheint auf einer modifizierten Form des epistemischen Infallibilitätsprinzips zu beruhen:

Infallibilitätsprinzip*: Für alle S, p, q: Wenn S’ Gründe p vor der inkompatiblen Alternative q auszeichnen, dann garantieren S’ Gründe die Wahrheit von p.

Dieses Prinzip ist sehr unplausibel. Denn nur weil bestimmte Gründe eine Überzeugung p vor q auszeichnen, heißt das noch lange nicht, dass p wahr ist!

Da die Prämisse P2 aber auf der Annahme (ii) und diese auf dem sehr unplausiblem Infallibilitätsprinzip ruht, ist P2 bisher die am schlechtesten gestützt Annahme des skeptizistischen Unterbestimmtheitargumentes!

Frage: Lässt sich die Prämisse P2 auch unabhängig vom Infallibilismus und Infallibilitätsprinzip stützen?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage werden weitere Prinzipien  diskutiert, die alternativ P2 stützen könnten. Insbesondere auch dieses hier:

Erklärungsprinzip: Für alle S, p, q: Wenn p S’ Gründe mindestens ebenso gut erklärt wie q, dann zeichnen diese Gründe p nicht vor der inkompatiblen Alternative q aus.

Dieses Prinzip ist deutlich schwächer und daher auch deutlich plausibler als das modifizierten Infallibilitätsprinzip*. Es erlaubt beispielsweise auch, dass abduktive oder inuktive Schlüsse eine Alternative vor einer anderen auszeichnen.

Nun kann das Erklärungsprinzip P2 offenkundig so stützen: Im GiT-Fall und im p-Fall verfüge ich über dieselben Gründe. Und die skeptische Hypothese kann das Vorliegen dieser Gründe mindestens ebenso gut erklären wie die realistische Hypothese. Gemäß dem Erklärungsprinzip folgt nun, dass meine Gründe p epistemisch nicht vor GiT auszeichnen können.[10]

Fazit: Das Erklärungsprinzip kann P2 und damit die skeptizistischen Unterbestimmtheitsargumente besser plausibilisieren als das Infallibilitätsprinzip.

Einzelnachweise

[1] Das andere zentrale Argument für skeptische Hypothesen ist das Geschlossenheitsargument.

[2] Vgl. z. B. Brueckner 1994; Pritchard 2005):

[3] Das gilt zumindest dann, wenn sie nicht auch Rechtfertigungsexternalisten sind und Rechtfertigung externalistisch ausbuchstabieren.

[4] Daneben hat auch Crispin Sartwell das Rechtfertigungsprinzip bestritten.

[5] John McDowell: Criteria, Defessability and Knowledge (1982)
[6] Timothy Williamnson: Knowledge and ist Limits (2000)
[7] Alan Millar: How Visual Perception Yields Reasons for Belief (2011)
[8] Duncan Ptritchard: Epistemological Disjunctivism (2012)
[9] Alex Byrne: The Epistemic Significance of Experience (2016)

[10] Jochen Briesen: Reconsidering Closure, Unterdetermination, and Infallibilism (2010)

Siehe auch

Stand: 2019

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